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angibt, jünger als sechzehn zu sein, schreien sie ihn wütend an: „Du bist sechzehn, vergiss das nicht, wer immer Dich auch fragt, sag sechzehn, verstehst Du, sechzehn, merk Dir das gut, Du bist sechzehn Jahre alt!!!“ Wir bemerken nicht, dass wir in zwei Gruppen aufgeteilt worden sind, eine Frauenund eine Männergruppe. […] Ich passe auf, neben meiner Mutter und Gilike zu bleiben, ich sehe nicht, wohin die Männer verschwinden. Wir sind mit Ferike beschäftigt, meine Mutter und Boci legen ihn auch jetzt oben auf den Korb und tragen jede einen Henkel, wie beim Einsteigen. Ein Gestreifter sagt ihnen, sie sollten Ferike meiner Tante Margit geben, aber sie antworten, er sei nicht schwer und sie trügen ihn gern. […] Schließlich sehen wir auch die Deutschen, es sind wenige, Männer und Frauen durcheinander, sie stehen vor uns, wir müssen an ihnen vorbei. Als die Reihen bei ihnen ankommen, sprechen sie den einen oder anderen an, leise, fast könnte man sagen freundlich. Daraufhin geht der eine in diese, der andere in die andere Richtung. Wenn jemand mit dem, den man in die andere Richtung geschickt hat, zusammenbleiben will, beruhigen sie ihn freundlich, die Kräftigen gingen zu Fuß, die etwas Erschöpfteren bringe man im Bus hinterher. In kurzer Zeit würden sie wieder zusammen sein. So beruhigt sich jeder. Natürlich. Auch wir kommen zu der Gruppe der Deutschen. Boci ist, da sie stillt, etwas fülliger als sonst. Dass sie acht Jahre älter ist als ich, sieht man nicht, und wir haben viel Ähnlichkeit miteinander. Freundlich spricht uns ein deutscher Herr an und fragt: – Seid ihr Zwillinge? – Nein – antworten wir, und seine Handbewegung befolgend gehe ich in die eine Richtung. u „Aussortierung“ ungarischer Juden. Foto vom Mai 1944. Ab Mai 1942 begann in Auschwitz-Birkenau der systematische Massenmord, zunächst in zwei provisorischen Gaskammern. Ab Mitte des Jahres entstanden insgesamt vier neue Krematorien mit Gaskammern im Kellergeschoss (Krematorium II und III) bzw. im Erdgeschoss (Krematorium IV und V); diese wurden ab März 1943 genutzt. Die sogenannte „Judenrampe“, ein Gleis, das vom Bahnhof außerhalb direkt in das Lager führte, kam nach knapp einjähriger Bauzeit erst ab Mai 1944 zum Einsatz. Zu diesem Zeitpunkt erreichte die Massenvernichtung in Birkenau ihren Höhepunkt: Innerhalb von drei Monaten wurden etwa 450 000 Juden aus Ungarn nach Auschwitz deportiert. Auf der Rampe wurden die „noch einsatzfähigen“ Männer und Frauen zunächst ins Lager aufgenommen und später zur Zwangsarbeit vornehmlich auf Reichsgebiet überstellt. Ein Teil, vor allem Zwillingskinder, fi el den KZ-Ärzten um Dr. Josef Mengele für „medizinische“ Experimente zum Opfer. Die große Mehrzahl der Ankommenden, vor allem Alte, Kranke, schwangere Frauen und Mütter mit Kindern, wurde jedoch als „arbeitsunfähig“ eingestuft und – unter dem Vorwand, sich duschen und desinfi zieren zu müssen – unverzüglich in die Gaskammern geschickt. 25 30 35 40 45 50 55 Boci, der Korb, im Korb Ferike, auf der anderen Seite des Korbes meine Mutter, an der Hand meiner Mutter Gilike und Tante Margit … gehen in die andere Richtung. Schon ist die nächste Reihe vor die Deutschen gekommen, und die setzen ihre freundlichen Einweisungen fort – hierhin, dorthin. Die größte Tragödie meines Lebens geschah so, dass ich sie nicht einmal bemerkte. Innerhalb einer Sekunde war ich allein, hatte meinen Vater, meine Mutter, meine Schwester, meine nächsten Verwandten verloren (Tanti überlebte). Mit einem Schlag war meine Kindheit vorbei, ich war erwachsen und völlig auf mich alleine gestellt. Das war mir damals noch nicht bewusst. Éva Fahidi, Die Seele der Dinge, aus dem Ungarischen von Doris Fischer, Berlin 2011, S. 161-163 1. Analysieren Sie, wie Éva Fahidi die Ankunft im Lager beschreibt. Welchen Menschen begegnet sie auf der „Rampe“ und welche Funktion weist sie diesen Personen zu? 2. Vergleichen Sie die Beschreibung der Überlebenden mit der hier gezeigten Abbildung zur „Selektion“ der ungarischen Juden in Birkenau. Welche Gemeinsamkeiten und welche Unterschiede zwischen Text und Bild fallen auf? Erläutern Sie dabei auch, welche Vorgänge des „Selektionsprozesses“ auf dem Foto nicht zu sehen sind. 3. Erörtern Sie anschließend, welche Absicht die SS-Männer vermutlich mit den Aufnahmen verbanden. Welche Bedeutung haben die Fotos dagegen heute vor allem für die ungarischen Überlebenden von Auschwitz-Birkenau und für die Erinnerung an den Holocaust weltweit? 60 65 145Massenmord und Holocaust Nu r z u Pr üf zw ec ke n E ge nt um de s C .C .B uc ne r V er la gs | |
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