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M2 „Scheidepunkt der europäischen Politik“ Der SPD-Abgeordnete Otto Wels stellt am 24. November 1925 im Reichstag die Locarno-Verträge in einen größeren Zusammenhang: Wie man auch zu den Verträgen von Locarno und zu dem Eintritt Deutschlands in den Völkerbund stehen mag, das fühlt ein jeder: Wir stehen jetzt am Scheidepunkte der europäischen Politik. Es fragt sich jetzt, ob eine neue Welt, in der der Gedanke des Friedens lebendige Kraft haben soll, das Leben der Völker Europas in Zukunft beherrschen wird, oder ob die Mächte, die, auf Gewalt und kriegerischen Auseinandersetzungen fußend, dem Fortschritt, dem moralischen und materiellen Wiederaufbau den Weg dauernd versperren sollen. […] Was seit Jahrzehnten in Europa fehlte, das Bedürfnis nach europäischer Solidarität, das ist heute ein sichtbares Bedürfnis aller europäischen Völker geworden. Aus dem Munde der zahlreichen Kollegen dieses Hauses, die kürzlich aus den Vereinigten Staaten von Amerika zurückgekehrt sind, haben wir immer und immer wieder gehört, dass man auch dort drüben volles Verständnis für diese europäischen Gemeininte ressen hat. Es zeigt sich jetzt allerdings mehr denn je die Notwendigkeit, die Allgemeininteressen Europas, die mit den Interessen jedes einzelnen Landes identisch sind, den selbstsüchtigen Interessen von Gruppen, Cliquen und Parteien voranzustellen. […] Es handelt sich gerade darum, das Bündnissystem der Vorkriegszeit und damit den Gegensatz, der zwischen Alliierten und Deutschland bestand, aus der Welt zu schaffen. Deutschland soll in Zukunft gleichberechtigt neben jenen Mächten stehen, nicht um mit ihnen gegen Russland zu marschieren, sondern um den Völkerbund aufzubauen, der schließlich auch Russland umfassen wird. Wolfgang Michalka und Gottfried Niedhart (Hrsg.), Deutsche Geschichte 1918 1933. Dokumente zur Innenund Außenpolitik, Frankfurt am Main 1992, S. 110 f. 1. Erarbeiten Sie aus dem Text, wie nach Ansicht von Wels „eine neue Welt, in der der Gedanke des Friedens lebendige Kraft haben soll“, verwirklicht werden kann. 2. Nennen Sie Gründe dafür, dass Wels hier auf die Meinung der Vereinigten Staaten verweist. 5 10 15 20 25 M1 Vergebene Chance? Der Historiker Detlev Peukert bewertet Stresemanns Ostpolitik kritisch: Das Exempel Oberschlesiens hätte eigentlich davor warnen müssen, das Heil der deutschen Ostpolitik in einer Grenzrevision zu sehen, da im polnischen Korridor genau die gleiche Problemkonstellation zu erwarten war. Dennoch blieb die Stresemannsche Position in der Grenzfrage inhaltlich völlig unbeweglich. Nur die Modalitäten der Revision wurden von ihm realistischer gesehen als von jenen Leuten um den deutschen Heereschef v. Seeckt, der mit dem Rapallo-Vertrag 1922 den Weg zur gemeinsamen Auslöschung Polens durch Russland und Deutschland einschlagen wollte. […] Das Angebot von Schiedsverträgen gegenüber den östlichen Nachbarn und das Bekenntnis zu einer ausschließlich friedlichen Revision konnten die entscheidende Auswirkung der deutschen Ostpolitik nicht aufheben: Deutschtumspolitik und Grenzrevision mussten in der ohnehin schon instabilen ostmitteleuropäischen Region destabilisierend wirken. Vor allem hatte diese Politik keine wirklich konstruktive Perspektive, da im nationalstaatlichen Sinne „gerechte“ Lösungen für alle Beteiligten angesichts der ostmitteleuropäischen Gemengelage prinzipiell unmöglich waren. Jede Neuregelung sorgte für mindestens so viel Konfl iktstoff, wie sie beseitigte. […] Es ist charakteristisch für die Beschränktheit der gegenüber dem Westen doch so realistischen Außenpolitik in der Ära Stresemann, dass diese Aporien1 der deutschen Ostpolitik nicht konstruktiv angegangen wurden. Das hätte sicherlich den schmerzhaften Verzicht auf Grenzrevision verlangt, damit aber zugleich eine Region stabilisiert, deren nationalis tisches Konfl iktpotenzial immer wieder die Gefahr kriegerischer Zusammenstöße provozieren konnte. […] Ein Deutschland, das mit dem sicher schmerzlichen Verzicht auf eine Revisionspolitik nach Osten eine ähnliche Zone der Sicherheit und Kooperation wie im Westen angeboten hätte, hätte wahrscheinlich die Rolle einer informellen, vor allem wirtschaftlich abgestützten Hegemonialmacht in Ostmitteleuropa gewonnen. Detlev J. K. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne, Frankfurt am Main 1987, S. 200 202 1. Fassen Sie die Argumente zusammen, die Peukert gegen die Ostpolitik Stresemanns vorbringt, und stellen Sie ihnen die Leitlinien und Voraussetzungen der deutschen Außenpolitik gegenüber. 2. Bewerten Sie die Einschätzung von Peukert. Ziehen Sie hierfür die Materialien M1 und M3 heran. Berücksichtigen Sie außenpolitische Leitlinien und innen politische Voraussetzungen der deutschen Politik. 5 10 15 20 25 30 35 1 Aporie: scheinbare Ausweglosigkeit 69Außenpolitik zwischen Revision und Annäherung Nu r z u P üf zw e ke Ei ge tu m d es C .C .B uc hn er V er la gs | |
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