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Jugend zwischen Kontrolle und Fürsorge Der Krieg und die Krisen der Nachkriegszeit machten die Jugendlichen zu einer verlorenen Generation ohne Perspektive. Während des Krieges waren sie mit alltäglicher Gewalt und Not konfrontiert gewesen, nach dem Krieg nahmen ihnen Wirtschaftskrise, Infl ation und Massenarbeitslosigkeit die Chance auf eine gesicherte Existenz. Viele mussten ohne ihre Väter, die sie im Krieg verloren hatten, aufwachsen. Soziale Not, Elend und Orientierungslosigkeit ließen die Jugendkriminalität ansteigen und machten die jungen Menschen anfällig für die Propaganda der radikalen Parteien. Der Staat versuchte, der hohen Kriminalität unter Jugendlichen gegenzusteuern. Die Reformpädagogik löste die bisherige, auf Drill und „Paukschule“ ausgerichtete Erziehung ab und wollte Jugendliche zu demokratischen und sozial denkenden Staatsbürgern erziehen. Dem Reichsjugendwohlfahrtsgesetz von 1922, durch das die ersten Jugendämter eingerichtet wurden, und dem 1923 eingeführten Jugendstrafrecht lag die Überzeugung zugrunde, dass Jugendliche anders zu behandeln seien als Erwachsene und Schutz und Hilfe benötigten. Zudem sollten halbstaatliche Jugendorganisationen, wie etwa Turnund Sportvereine, die Jugend lichen unter geregelte Aufsicht bringen. Dennoch waren viele Jugendliche republikfeindlich eingestellt, traten kommunistischen und nationalistischen Organisationen bei und beteiligten sich an antirepublikanischen Veranstaltungen und Krawallen. Ausgehend von der unpolitischen Wandervogelbewegung, die sich noch im Kaiserreich gebildet hatte, politisierte und radikalisierte sich die Jugendbewegung zunehmend (u M4). Auf der einen Seite stand die organisierte Arbeiterjugend. Auf der anderen Seite formierte sich die „bündische“ Jugend, die nach und nach alle politisch und konfessionell unabhängigen Jugendverbände, so auch die Wandervögel und die Pfadfi nderverbände, in sich aufnahm. Der wichtigste Verband war die 1926 gegründete Deutsche Freischar. Sie war stark militaristisch und republikfeindlich ausgerichtet. Die jugendliche Gemeinschaft war für sie die Keimzelle der „Volksgemeinschaft“. Gegen Ende der 1920er-Jahre verstärkten sich rassistische und antisemitische Tendenzen. 1933 trat die Mehrheit der bündischen Jugend der Hitler-Jugend bei. Allerdings hatten auch jugendliche Widerstandsgruppen wie die Edelweißpiraten und die Weiße Rose* ihre Wurzeln in der bündischen Jugend. Antisemitismus Die jüdische Bevölkerung in Deutschland erhielt durch den recht lichen Emanzipationsprozess im 19. Jahrhundert, die staatsbürgerliche Gleichstellung im Kaiserreich und die Chancen durch die Industrialisierung verstärkt Zugang zum Bürgertum und zur Bildungselite. Führungspositionen in der staatlichen Verwaltung, im Offi zierskorps, an Universitäten und in der Justiz blieben aber weiterhin die Ausnahme. Im August 1914 zogen die deutschen Juden ebenso vorbehaltlos in den Krieg wie ihre nichtjüdischen Landsleute. Doch schon sehr bald wurden antisemitische Stimmen laut, die den Juden vorwarfen, sich vor dem Fronteinsatz zu drücken und den Krieg ausschließlich als Möglichkeit zu sehen, um daraus fi nanziellen Gewinn zu ziehen. Angeblich um diese Vorwürfe zu entkräften, ordnete das Kriegsministerium 1916 an, die Edelweißpiraten: oppositioneller Zusammenschluss von Jugendlichen aus dem Arbeitermilieu während der NS-Zeit * Siehe S. 148. i Propaganda-Plakat, um 1933. Der NSDAP gelang es, in großer Zahl junge Unterstützer zu mobilisieren, indem sie sich als Verkörperung des „jungen“ Deutschland und als unverbrauchte Kraft stilisierte. Nach 1933 perfektionierte die NS-Diktatur mit ihren Jugendorganisationen, der „Hitler-Jugend“ (HJ) und dem „Bund Deutscher Mädel“ (BDM), das System des Drills und Schleifens – eine Erziehung, die zunehmend der Vorbereitung auf den Krieg diente. 73Gesellschaft zwischen Revolution und Tradition Nu r z u Pr üf zw ec ke n E ge nt um d e C .C .B uc hn er V er la gs | |
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