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Frühlings Erwachen – Erster Akt, Fünt e Szene Auszug Sonniger Nachmittag. – Melchior und Wendla begegnen einander im Wald. Wendla Was wolltest du mich fragen, Melchior? Melchior Ich habe gehört, Wendla, du gehest häufi g zu armen Leuten. Du brächtest ihnen Essen, auch Kleider und Geld. Tust du das aus eigenem Antriebe oder schickt deine Mutter dich? Wendla Meistens schickt mich die Mutter. Es sind arme Taglöhnerfamilien, die eine Unmenge Kinder haben. Ot fi ndet der Mann keine Arbeit, dann frieren und hungern sie. Bei uns liegt aus früherer Zeit noch so mancherlei in Schränken und Kommoden, das nicht mehr gebraucht wird. Aber wie kommst du darauf? Melchior Gehst du gern oder ungern, wenn deine Mutter dich so wohin schickt? Wendla O für mein Leben gern! Wie kannst du fragen! Melchior Aber die Kinder sind schmutzig, die Frauen sind krank, die Wohnungen strotzen von Unrat, die Männer hassen dich, weil du nicht arbeitest… Wendla Das ist nicht wahr, Melchior. Und wenn es wahr wäre, ich würde erst recht gehen! Melchior Wieso erst recht, Wendla? Wendla Ich würde erst recht hingehen. – Es würde mir noch viel mehr Freude bereiten, ihnen helfen zu können. Melchior Du gehst also um deiner Freude willen zu den armen Leuten? Wendla Ich gehe zu ihnen, weil sie arm sind. Melchior Aber wenn es dir keine Freude wäre, würdest du nicht gehen? Wendla Kann ich denn dafür, dass es mir Freude macht? Melchior Und doch sollst du dafür in den Himmel kommen! – So ist es also richtig, was mir nun seit einem Monat keine Ruhe mehr lässt! – Kann der Geizige dafür, dass es ihm keine Freude macht, zu schmutzigen kranken Kindern zu gehen? Wendla O dir würde es sicher die größte Freude sein! Melchior Und doch soll er dafür des ewigen Todes sterben! – Ich werde eine Abhandlung schreiben und sie Herrn Pastor Kahlbauch einschicken. Er ist die Veranlassung. Was faselt er uns von Opferfreudigkeit! – Wenn er mir nicht antworten kann, gehe ich nicht mehr in die Kinderlehre und lasse mich nicht konfi rmieren. Wendla Warum willst du deinen lieben Eltern den Kummer bereiten! Lass dich doch konfi rmieren; den Kopf kostet’s doch nicht. Wenn unsere schrecklichen weißen Kleider und eure Schlepphosen nicht wären, würde man sich vielleicht noch dafür begeistern können! Melchior Es gibt keine Aufopferung! Es gibt keine Selbstlosigkeit! – Ich sehe die Guten sich ihres Herzens freun, sehe die Schlechten beben und stöhnen – ich sehe dich, Wendla Bergmann, deine Locken schütteln und lachen, und mir wird so ernst dabei wie einem Geächteten. – – Was hast du vorhin geträumt, Wendla, als du am Goldbach im Grase lagst? Wendla – – Dummheiten – Narreteien – Melchior: Mit of enen Augen?! 5 10 15 20 25 30 35 40 139Eine Dramenszene analysieren N u r zu P rü fz w e c k e n E ig e tu m d e s C .C . B u c h n e r V e rl a g s | |
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