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13Ein neues Denken entsteht M1 Sich von der „Last des Aberglaubens“ befreien Der römische Dichter Lukrez (um 97 55 v. Chr.) plädiert in seinem Werk „De rerum natura“ („Über die Natur“) für eine neue Form der Erkenntnis. Er beruft sich dabei auf die griechische Philosophie. Lukrez’ Werk beeinfl usst die Humanisten im 15./16. Jh. und Denker des 17./18. Jh. Schmachvoll, so konnten es alle sehen, lag das Leben, lagen die Menschen im Staub, niedergedrückt unter der Last des Aberglaubens, der aus erhaben himmlischen Regionen das Haupt herabreckt und mit schreckender Fratze den Sterblichen droht. Gegen sie den sterblichen Blick zu erheben, erstmals dagegen aufzustehn, hat ein Grieche1 gewagt. Nichts konnte ihn erschrecken, nicht, was erzählt wurde über die Götter, Blitze nicht und kein vom Himmel grollendes Getöse2; das vielmehr steigerte seinen Mut noch, sein Verlangen, der Erste zu sein, der die Riegel aufbricht, die das Tor zur Natur der Dinge verschlossen hielten. Es obsiegte die feurige Kraft seines Denkens, und er machte sich auf, drang weit mit seinen Gedanken, bis hinaus über die fl ammenden Zinnen unserer Welt, durchzog mit seinem Denken und Empfi nden das ohne Maß weite Universum und kam von dieser Ausfahrt siegreich zurück: Er konnte uns sagen, was werden kann, was nicht, kurz: Wie eines jeden Dinges Kraft begrenzt ist und allem, was ist, ein Grenzstein3 tief eingepfl anzt. So hat sich die Lage verkehrt: Niedergetreten, am Boden liegt der Aberglaube, völlig besiegt; uns aber hebt dieser Sieg zu den Himmeln. Lukrez, Über die Natur der Dinge. In deutsche Prosa übertragen und kommentiert von Klaus Binder, Berlin 2014, S. 41 (Anm. hinzugefügt) Erläutern Sie, wodurch nach Lukrez der Mensch die „Furcht vor den Göttern“ verliert. M2 Sokratisches Lehrgespräch Platon dokumentiert in seinen Dialogen philosophische Gespräche des Sokrates mit seinen Schülern: Sokrates: So muss sich deutlich machen, wer etwas erklärt. Wohlan, lass uns nun dieses gemeinschaftlich betrachten, ob es eine rechte Geburt ist oder ein Windei! Wahrnehmung, sagst du, sei Erkenntnis? Theaitetos: Ja. Sokrates: Und gar keine schlechte Erklärung scheinst du gegeben zu haben von der Erkenntnis, sondern welche auch Protagoras gibt, nur dass er diese nämliche auf eine etwas andere Weise ausgedrückt hat: Er sagt nämlich, der Mensch sei das Maß aller Dinge, der seienden, wie sie sind, der nichtseienden, wie sie nicht sind. Du hast dies doch gelesen! Theaitetos: Oftmals habe ich es gelesen. Sokrates: Nicht wahr, er meint dies so: Wie ein jedes Ding mir erscheint, ein solches ist es auch mir, und wie es dir erscheint, ein solches ist es wiederum dir. Ein Mensch aber bist du sowohl als ich. Theaitetos: So meint er es unstreitig. Sokrates: Wahrscheinlich doch wird ein so weiser Mann nicht Torheiten reden. Lass uns ihm also nachgehen! Wird nicht bisweilen, indem derselbe Wind weht, den einen von uns frieren, den andern nicht? Oder den einen wenig, den andern sehr stark? Theaitetos: Jawohl. Sokrates: Sollen wir nun in diesem Falle sagen, dass der Wind an und für sich kalt ist oder nicht? Oder sollen wir dem Protagoras glauben, dass er dem Frierenden ein kalter ist, dem Nichtfrierenden nicht? Theaitetos: So wird es wohl sein müssen. Sokrates: Und so erscheint er doch jedem von beiden? Theaitetos: Freilich. Sokrates: Dieses „erscheint“ ist aber eben das Wahrnehmen? Theaitetos: So ist es. Sokrates: Erscheinung also und Wahrnehmung ist dasselbe in Absicht auf das Warme und alles, was dem ähnlich ist? Denn wie ein jeder es wahrnimmt, so scheint es für ihn auch zu sein. Platon, Theaitetos 151 St. 1 E 152 St. 1 B; zitiert nach: www.opera-platonis.de/ Theaitetos.html [23. 09. 2013] Erläutern Sie, was nach Sokrates Erkenntnis bedeutet. Begründen Sie seine Ansicht. 5 10 15 20 25 30 35 5 10 15 20 1 Lukrez lobt hier den griechischen Philosophen Epikur (341 271 v. Chr.). Für Epikur ist der Maßstab der Wahrheit die sinnliche Wahrnehmung, auf die sich auch alle Vernunfterkenntnis aufbaut. 2 Donner galt als Zeichen des Zorns der Götter. 3 Lukrez’ Metapher für das unverbrüchliche Gesetz, das, Epikur zufolge, alle Dinge regiert, ihren Werdegang und die Grenzen ihres Bestehens markiert Nu r z ur P rü fzw e ke n Ei ge nt um d es C .C . B uc hn er V er l gs | |
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