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Aus der attischen Demokratie lernen? 25 und die guten Leute gut gestellt sind, machen die dem Volk zugehörigen Leute das ihnen entgegengesetzte Element stark. In jedem Land freilich steht das beste Element der Demokratie entgegen. Bei den Besten gibt es nämlich die geringste Zügellosigkeit und Ungerechtigkeit, aber das meiste gewissenhafte Bemühen um das Gute, hingegen beim Volk die meiste Ignoranz, mangelnde Disziplin und Schlechtigkeit; denn die Armut führt sie eher zu schimpfl ichen Verhalten, und der Mangel an Erziehung und Bildung ist zumindest bei einigen von den Menschen das Ergebnis des Mangels an Geld. […] Denn das Volk will nicht in einer Stadt mit guten Gesetzen selbst Sklave sein, sondern frei sein und herrschen, der Zustand mit schlechten Gesetzen kümmert dagegen wenig. Was nämlich du für einen Zustand mit keinen guten Gesetzen ansiehst, daraus ist das Volk selbst stark und frei. Wenn du aber nach einem Zustand mit guten Gesetzen suchst, so wirst du zuerst sehen, dass die klügsten Leute ihnen die Gesetze geben. Dann werden die Guten die Schlechten bestrafen, und die Guten werden über die Stadt beraten und nicht zulassen, dass verrückte Menschen Ratsmitglieder sind, zu Wort kommen und an der Volksversammlung teilnehmen. Aufgrund dieser guten Einrichtungen würde das Volk sehr schnell in Sklaverei verfallen. Pseudo-Xenophon, Die Verfassung der Athener. Griechisch und deutsch, hrsg., eingel. und übersetzt von Gregor Weber, Darmstadt 2010, I, 1-12 (S. 45 47) M2 Über die Bedeutung der attischen Demokratie Der Althistoriker Alexander Demandt schreibt 1995 dazu: Die attische Demokratie war ein Staatswesen, das Zeitgenossen wie Nachgeborene zur Stellungnahme herausgefordert hat. Die antiken Autoren haben sich überwiegend kritisch dazu geäußert. […] Ein Hauptvorwurf der antiken Demokratiekritik war, dass die Demokratie keine Volksherrschaft, sondern eine Klassenherrschaft gewesen sei, die Herrschaft der Unbemittelten, Ungebildeten. Die besseren Leute seien bloß gebeutelt worden, ohne den ihnen zustehenden Einfl uss zu genießen. Dadurch, dass die Entscheidungen von den Massen getroffen würden, könne man von niemandem Rechenschaft fordern, niemanden zur Verantwortung ziehen und müsse jeden Meinungswandel einfach hinnehmen. […] Diese Einwände sind nicht ganz falsch. Die Verhandlung vor der Volksversammlung machte ein besonnenes Abwägen ebenso schwer wie einen sachlichen Dialog. Wie jede Massenversammlung unterlag sie den Gesetzen der Massenpsychologie, und das Tempo des Entscheidungsprozesses gab momentanen Stimmungen ein politisches Übergewicht vor rationaler Argumentation. […] Ein zweiter, ebenfalls antiker Topos1 der Demokratiekritik ist, dass die politische Tätigkeit die Massen allzu sehr in Anspruch nahm. Um sich die Freizeit für die Politik leisten zu können, mussten die Athener ihre Metöken, Bundesgenossen und Sklaven für sich arbeiten lassen. Die antike Demokratie war auf die Sklaverei ebenso angewiesen wie die moderne Demokratie auf Maschinentechnik. […] Ein dritter Minuspunkt muss in der Schutzlosigkeit des Einzelnen gegenüber der Masse gesehen werden. Nicht die Freiheit, sondern die Gleichheit der Bürger wurde gefordert. Einschränkungen seiner eigenen kollektiven Handlungsfreiheit hat der attische Demos nicht akzeptiert und daher nach Gutdünken viele der bedeutenden Politiker durch das Scherbengericht und zahlreiche Intellektuelle wegen Gottlosigkeit verurteilt. […] Die Französische Revolution hat dem demokratischen Gedanken geschadet. Durch Robespierre2 […] geriet er in die Nähe der Guillotine, und durch Napoleon3 schien die Lehre Platons bestätigt, dass die radikale Demokratie in Tyrannei umschlage. Die Gründerväter der Vereinigten Staaten von Amerika wollten […] keine Demokratie, sondern eine republikanische Mischverfassung 4 schaffen. Dennoch gab es auch in Amerika früh Bewunderer Athens. Thomas Paine schrieb 1792: What Athens was in miniature, America will be in magnitude. […] Eine vollständige Verwirklichung des demokratischen Prinzips gibt es weder in der Neuzeit noch im Altertum. Immerhin bietet Athen die Ideale.5 Alexander Demandt, Antike Staatsformen. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte der Alten Welt, Berlin 1995, S. 229 231 (stark gekürzt) 1. Erläutern Sie die im Schaubild verwendeten Begriffe. (Sachkompetenz) 2. Arbeiten Sie heraus, wie „Pseudo-Xenophon“ über die Athener Demokratie urteilt und wie er seine Position begründet (M1). (Sachkompetenz) 3. Diskutieren Sie, wie man die Entstehung von Populismus erklären könnte und wie man ihm politisch begegnen kann. (Handlungsund Urteilskompetenz) 4. Erörtern Sie die Bedeutung der attischen Demokratie für die Entwicklung der modernen Demokratie (M2). (Urteilsund Orientierungskompetenz) 1 Topos: feststehende Vorstellung 2 Robespierre: Siehe hier S. 197. 3 Napoleon: Siehe hier S. 198. 4 Mischverfassung: Verfassungsform, die – wie die Römische Republik – aus monarchischen, aristokratischen und demokratischen „Elementen besteht; siehe auch S. 29 und S. 38 f. 5 Siehe zum Thema auch S. 214 ff. 40 45 50 55 60 5 10 15 20 25 30 35 40 45 Nu r z ur P rü fzw ec k Ei ge nt um d es C .C . B uc hn r V er la gs | |
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