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85Die Bedeutung der Städte nimmt zu Größtmögliche Autonomie Neuere Untersuchungen warnen allerdings davor, die Stadt und das Bürgertum einseitig als „antifeudal“ oder „antiständisch“ zu betrachten. Stadtgründung und -entwicklung mussten nicht unbedingt im unüberwindlichen Gegensatz zum Stadtherrn verlaufen. Weder den Fernhändlern in der „Kommune“Bewegung noch den Handwerksmeistern in den Zunftaufständen ging es um die rechtliche und politische Gleichberechtigung aller Bürger oder gar aller Stadtbewohner. Die sie tragenden Patrizier und Handwerksmeister strebten nach größtmöglicher Autonomie in den vorgegebenen ständischen und feudalen Verhältnissen. Viele Adlige aus dem Umland verlegten ihren Wohnsitz in die Stadt und wurden ins Patriziat aufgenommen. Die städtische Oberschicht orientierte sich in ihrem Lebensstil noch jahrhundertelang am Adel. Falsch wäre es auch zu denken, in der mittelalterlichen Stadt hätte bereits der Grundsatz der freien Entfaltung der Persönlichkeit gegolten. Im Gegenteil: Arbeit und Alltag waren nicht weniger geregelt und kontrolliert wie auf dem durch die Grundherrschaft geprägten Dorf. Begann ein bürgerliches Zeitalter? Mit den Worten des Historikers Hans K. Schulze ging es dem mittelalterlichen Stadtbürgertum in erster Linie um die „Beseitigung der Beschränkungen, die es an der vollen Entfaltung der bürgerlichen Wirtschaftsund Sozialordnung hinderten“, nicht aber um „allgemeine Freiheit, um Mitund Selbstbestimmung im Sinne menschlicher Grundrechte“. Es führt also kein direkter Weg von der mittelalterlichen Stadt zur modernen bürgerlichen Gesellschaft (u M5). Zu berücksichtigen ist auch, dass das genossenschaftliche Prinzip der „Kommune“ im frühneuzeitlichen Territorialstaat und durch den Absolutismus zurückgedrängt und unterdrückt wurde. Andererseits erlangten die Städte aufgrund ihres wirtschaftlichen Erfolges und ihrer Finanzkraft politischen Einfl uss: Kein König oder Landesherr konnte auf ihre Steuern und die fi nanzielle Unterstützung reicher Bürger verzichten. Obendrein griffen Territorialherren und absolutistische Herrscher zur Verwaltung ihrer Staaten und als Ratgeber immer mehr auf Mitglieder des Bürgertums zurück: einmal aufgrund ihrer universitären Bildung, zum anderen, um den Einfl uss von Geistlichkeit und Adel zurückzudrängen. Schließlich waren sowohl ganze Städte als auch einzelne Bürger Auftraggeber und Förderer von Kunst und Kultur. Damit standen sie in Konkurrenz zu geistlichen und weltlichen Herren. Erst jetzt entstand ein wirklicher Markt für weltliche Kunst. Wirtschaftlicher Erfolg und Aufstieg im Dienst der Monarchen förderten das Selbstbewusstsein des gehobenen Bürgertums. Im Laufe der Neuzeit entstand eine bewusst bürgerliche Kultur und Lebensweise, die sich von der der Geistlichen und des Adels unterschied und abhob. Das war selbstverständlich nicht mehr das Bürgertum der mittelalterlichen Stadt, doch diese hatte die Grundlagen für die Bürgergesellschaft der Neuzeit gelegt. Humanismus und Renaissance, Aufklärung, Französische Revolution und Industrielle Revolution trugen dazu bei, dass sich in Europa ein „bürgerliches Zeitalter“ mit dem Bürgertum als der bestimmenden kulturellen und politischen Kraft herausbildete. i Der Geldwechsler und seine Frau. Ölgemälde (71 x 68 cm) von Quentin Massys, 1514. N r r P rü fzw ec ke n Ei ge nt um d es C .C . B uc hn er V er la gs | |
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