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9besten Willen nichts Hässliches an ihr fi nden. Die beiden passen super zusammen, ein Paar wie aus dem Werbespot. Der Wahnsinnstyp sitzt ganz ruhig da und liest konzentriert in seinem Buch. Leider kann ich den Titel nicht entziff ern. Egal, bestimmt irgendwas Trendiges, oder wenigstens „Harry Potter“ im englischen Original. Hin und wieder streicht er scheinbar selbstvergessen seine dunklen Locken nach hinten, um danach nur noch verwuschelter auszusehen. Das weiß er natürlich. Logo. Solche Typen wissen, wie sie wirken. Leider. Ich seufze. Anscheinend zu laut. Er schaut plötzlich von seinem Buch auf, genau in meine Augen. Keine Zeit mehr wegzusehen. Himmel, was hat der Typ für Augen! Grün, mit kleinen braunen Sprengseln drin. Jetzt grinst er leicht. Oh, Grübchen hat er auch! Nicht auszuhalten! Echt, bei Grübchen werde ich schwach. Könnte ich jetzt nicht irgendwas sagen? Ich meine, irgendwas Spritziges, wahnsinnig Witziges, das ihm in null Komma nichts deutlich macht, was für eine Ausnahmeerscheinung ihm hier gegenübersitzt, was für eine unwiderstehliche Mischung aus Sex, Hirn und Coolness? Pustekuchen! Mein Kopf ist hohl wie eine Kokosnuss. Der Moment ist vorbei. Der Wahnsinnstyp senkt den Kopf und blättert wieder in seinem Buch. Er bewegt sich dabei ganz vorsichtig, um das schlafende Mädchen an seiner Schulter nicht zu stören. Rücksichtsvoll ist er also auch noch. Unglaublich. Andere Typen würden sich ihren Walkman auf die Ohren knallen und die Braut mit Eminem beschallen. Ob’s ihr nun passt oder nicht. Wohin die beiden wohl fahren? Bestimmt zu einer Mega-Party nach Köln oder Düsseldorf. Und nicht zu einer Tante nach Bonn-Bad Godesberg wie ich. Das Leben ist ungerecht. Wo sind wir eigentlich? Der Anzugträger ist in Bochum ausgestiegen und der Schaff ner – nee, Zugbegleiter heißen die ja inzwischen – hat gerade den nächsten Bahnhof angekündigt. Schon quietschen die Bremsen. Ich seh raus auf den Bahnsteig. Ah ja, das hier muss Wuppertal sein. Der zugbegleitende Schaff ner pfeift. Die letzten Leute drängen zur Tür. „Au Scheiße!“ Wie von der Tarantel gestochen, schießt die Blonde von gegenüber urplötzlich von ihrem Sitz hoch, greift ihre Klamotten und stürmt grußlos den Gang runter. Der Wahnsinnstyp blickt kaum von seinem Buch auf. WAS?! Jetzt kapier ich überhaupt nichts mehr! Wieso bleibt denn der Typ hier seelenruhig sitzen? Bin ich im falschen Film, oder was? Anscheinend mache ich ein derart dämliches Gesicht, dass der Wahnsinnstyp Mitleid mit mir bekommt. Jedenfalls sagt er plötzlich: „Ich kannte sie gar nicht.“ „Hä?“, krächze ich verständnislos. Lieber Himmel, kann ich bitte, bitte bald einen normalen Satz sprechen? Seltsam, jetzt wirkt der Typ irgendwie verunsichert. So als frage er sich plötzlich, ob mich diese Info überhaupt interessiert. „Das Mädchen!“, fügt er erklärend hinzu. „Die Blonde, die hier … äh … geschlafen hat.“ Er zeigt auf seine linke Schulter, als gäbe es im Zug noch hundert andere schlafende Blondinen, die gemeint sein könnten. „Sie hat mir beim Einsteigen in Berlin nur kurz gesagt, dass sie letzte Nacht durchgemacht hat, und dann war sie auch schon eingepennt.“ „Ach so, klar.“ Ich grinse und nicke dazu wie ein Hund mit Wackelkopf. „Ist ja verrückt …“ Okay, ganz ruhig bleiben! Das war schon fast ein ganzer Satz. Ich werde besser. Der Wahnsinnstyp klappt sein Buch zu (er klappt sein Buch zu!!! Er will mit mir reden!!!) und lächelt. „Ich fahr nach Bonn, und du?“ „Ich auch. Ich fahr auch nach Bonn.“ Wuppertal – Bonn, genaue Fahrzeit mit dem ICE 640 Johannes Brahms: eine Stunde, zwei Minuten. 62 Minuten, um den Wahnsinnstypen zu erobern. 62 Minuten. Das schaff e ich! 85 90 95 100 105 110 115 120 125 K1 A1 Meine Deutungsidee: 130 135 140 145 150 155 160 165 170 Erzäh lende Texte zusam menfa ssen und k reativ umge stalte n | |
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