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179Umgang mit Texten und Medien Spiegelungen 1936 reist Selma Löwenthal mit ihren beiden Töchtern nach Hamburg, wo sie das Frachtschiff „Tanganyika“ besteigen, eine der letzten Fluchtmöglichkeiten für deutsche Juden. Niemand erklärt den Kindern, worum es hier eigentlich geht. „Es gab keinen Abschied, es gab keine Vorbereitung, man wollte kein Aufsehen erregen, und da sagte man den Kindern nicht vorher, wann man fährt. Diese Heimlichkeit vor den Kindern war sehr groß. Die haben gedacht, Kinder sind dumm.“ Die Kinder schlucken die Fragen hinunter und wundern sich, was das für „Wiesen“ sind, wenn die Erwachsenen immer von „Devisen“2 reden. Auf dem Schiff ist ihnen schnell klar, dass sie nur zu den armen, geduldeten Passagieren gehören. In der dritten Klasse werden die fünfundzwanzig Emigranten, Menschen ohne Pass und Geld, auf engstem Raum zusammenge pfercht. Zum Glück gibt es eine große Schiffsbibliothek, die Ruth von vorne bis hinten durchliest. […] Die Fahrt nach Südafrika dauert sechs Wochen, Zeit genug, um über den Verlust von Großeltern und Freunden zu trauern. Genug Zeit auch, um zu begreifen, dass sie einer Welt entgegensteuert, in der nichts so sein wird wie zu Hause. „Eine unserer Tanten wartete bei unserer Ankunft in Kapstadt auf uns: eine schöne, dunkelhaarige Frau mit Sonnenschirm. Als sie meine Schwester und mich begrüßte, kniff sie die Augen zusammen und sagte: ‚Ganz nett … Gute weiße Haut. Ich werde euch sofort Sonnenhüte kaufen, damit ihr nicht braun werdet. Hier schätzt man weiße Haut sehr.’“ […] Die Löwenthals sind arm – aber stolz. Sie wollen die reichen Tanten aus den Vororten nicht um noch mehr Hilfe bitten. Doch das Geld ist immer knapp, denn der Vater ist kein guter Geschäftsmann, er lässt viele Kunden anschreiben. So wird nun auch die Mutter im Laden gebraucht und die Familie sucht ein girl für die Hausarbeit. Als die junge schwarze Jenny sich vorstellt, bringt sie ihr Baby mit. Während die Eltern mit Jenny sprechen, spielen Ruth und Margot mit dem Kind und sind völlig fasziniert von seiner glänzenden Haut und den großen braunen Augen. Später nimmt auch Selma Löwenthal das Baby auf den Arm und wiegt es, bis Jenny sich verabschiedet. Die kleine Szene wird von den Nachbarinnen beobachtet. Sofort beschweren sie sich bei der Familie Löwenthal: „Man fasst kein schwarzes Kind an, das gehört sich nicht. Das ist hier ein Verstoß gegen die guten Sitten.“ So lernt Ruth die Rassentrennung unter neuen Vorzeichen kennen. 45 50 55 60 65 70 75 80 2 die Devisen: das Geld einer fremden Währung Ruth Löwenthal (r.) und ihre Schwester Margot Nu r z u Pr üf zw ec k n Ei g nt u de C .C . B uc ne r V er la gs | |
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