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231Umgang mit Texten und Medien Übergänge stellte sich breitbeinig über die Dehnfuge, die den Scheitel der Brücke markierte, und schaute aufs Meer hinaus. „Hättest du gedacht, dass es so schaukelt?“, schrie er. Jan schüttelte den Kopf. Jeder Lastwagen brachte die Brücke zum Schwingen und wenn er abwärts schaute, auf diese eine Ewigkeit tief unter ihm liegende Wasserfläche, konnte er die genetischen Bestandteile der mütterlichen Höhenangst im Bauch spüren. „Ob man heil bleibt, wenn man runterjumpt?“, fragte er. „Ich würde es dich nicht probieren lassen!“, rief der Vater zurück. „Manchmal meine ich, ich müsste so etwas probieren!“ Jan wollte ihm Angst machen, aber der Vater nickte. „Manchmal meine ich, ich könnte keine Sekunde mehr weiterleben, wenn ich nicht sofort so was probiere – kannst du dir das vorstellen?“ Der Vater sah ihn an, zog die Unterlippe zwischen die Zähne, wie er es immer tat, wenn er nicht wusste, ob es klug war, etwas auszusprechen. „Ich war nicht immer dreiundfünfzig, Jan, ich kenne das, ja!“ „Es ist nur die Angst, die einen zurückhält, oder?“ „Am Anfang, denke ich, ist es nur die Angst zu sterben, später ist es auch die Angst, jemanden im Stich zu lassen, zu versagen, wegzulaufen. Die Angst zu sterben lässt nach, je näher du dem Tod kommst. Du begreifst mit der Zeit, dass du nicht drum herum kommst. Dann gibt es Nächte, in denen du glaubst, verrückt zu werden, weil schon so viel vorbei ist vom Leben, und dann kommt ein Morgen und ein Tag und du verlierst die Angst wieder.“ Er sah Jan an, zuckte die Schultern. So ist es eben, hieß das, kein Grund sich aufzuregen. „Ich wusste nicht, dass du solche Gedanken hast“, sagte Jan. Wieder zuckte der Vater die Schultern, dann ging er ganz nach vorne ans Geländer, neigte sich weit drüber, als wollte er sich in den weiten Luftraum zwischen Brücke und Wasser hineingleiten lassen. „Wär’ doch ’n cooler Abgang, was?“, schrie er. Normalerweise hasste es Jan, wenn sein Vater so zu reden versuchte, wie er dachte, dass Jugendliche es täten. Das klang so nach Pädagogik, so nach trickreichem Einschleusen wohlüberlegter Erziehungskonzepte – in jedem Fall ein Grund, auf Abstand zu gehen. Aber diesmal ging er ohne darüber nachzudenken auf das Spiel ein, schnappte seinen Vater bei der Jacke, zog ihn mit einem Ruck zurück – vielleicht war es auch wirkliche Angst um ihn –, umgriff ihn von hinten mit beiden Armen und drückte ihn an sich. Sein Vater war einen Kopf kleiner als er, inzwi45 50 55 60 65 70 75 80 N u r zu P rü fz w e c k e n E ig e n tu m d e s C .C . B u c h n e r V e rl a g s | |
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