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Was wir wissen – was wir können 31 Was wir können Menschen können Orientierungslosigkeit nur schlecht aushalten. Darum folgen sie in aller Regel Üblichkeiten selbst dann, wenn die Folgen problematisch werden. Wie wichtig das Wissen des eigenen Nichtwissens sein kann, zeigt der Fall „Aderlass“. Theorien über komplexe Systeme – der Aderlass Aderlass war bis weit ins 19. Jahrhundert ein übliches medizinisches Verfahren. Die Idee des Aderlass gründet auf der „Viersäftelehre des Körpers“. Nach dieser Theorie sind alle Krankheiten auf ein Un gleichgewicht von vier Säften – gelbe Galle, schwarze Galle, Schleim und Blut zurückzuführen. Bei Akne, Asthma, Cholera, Diabetes, Epilepsie, Pest, Hirnschlag, Tuberkulose und hundert anderen Krank heiten hat der Körper angeblich zu viel Blut – darum Aderlass. Allein in den 1830er Jahren importierte Frankreich deshalb über 40 Millionen Blutegel. Die Viersäftelehre hat die Medizin über 2000 Jahre lang dominiert. Kaum eine andere wissenschaftliche Theorie konnte sich so lange halten, und das, ob wohl sie kompletter Humbug war. Den meisten Pa tienten ging es ohne Aderlass nachweislich besser – was auch den Ärzten nicht verborgen blieb. Phänomenologie des Aderlass Ein Mann wird zum Arzt gebracht. Dieser schneidet ihm die Arterie des Unterarms auf und lässt das Blut herausspritzen – einen halben Liter. Der Mann fällt in Ohnmacht. Am nächsten Tag muss er fünf weitere Aderlässe über sich ergehen lassen. Bei den letzten drei Prozeduren will das Blut nicht mehr richtig herausschießen, also setzt der Arzt einen Glaskolben gefüllt mit heißer Luft an die Wunde. Die Luft kühlt sich ab, entwickelt ein Vakuum, und saugt das Blut aus dem Arm. Der Mann liegt nun halb tot mit sechs Schnittwunden im Bett – jetzt setzt der Arzt Blutegel an die empfindlichsten Stellen der Wunde. Die Würmer saugen sich langsam voll. Wenn sie prall sind und vor Blut fast platzen, werden neue, hungrige Egel angesetzt. Nach drei Monaten wird der Patient entlassen – wenn er nicht gestorben ist. Warum wir kein Gefühl für das Nichtwissen haben 2000 Jahre lang hat sich das medizinische Establishment an eine falsche Theorie geklammert – entgegen aller Evidenz. Warum? So unglaublich es klingt, aber die Viersäftelehre des Körpers ist exemplarisch für alle Theorien, die sich mit komplexen Systemen – Mensch, Börse, Kriege, Städte, Ökosysteme, Unternehmen – befassen. Wir geben eine falsche Theorie nicht auf, wenn sie sich als falsch erweist, sondern erst, wenn eine bessere in Sicht ist. Ansichten fühlen sich nur entweder „richtig“ oder „falsch“ an. Bewuss te Ignoranz – die Einsicht, etwas (noch) nicht zu wissen – hat keinen Platz in unserer Gefühlswelt. Wir wissen nicht, wie sich Nichtwissen anfühlen soll. Darum sind wir besser im Theorienerfinden als im Zugeben unserer Ignoranz. Rolf Dobelli, S. 97f A u fg a b e n Dem Wissenschaftstheoretiker Thomas Kuhn fiel auf, dass Theorien nie unter dem Gewicht ihrer eigenen Feh ler kollabieren, sondern erst dann, wenn eine an dere, scheinbar bessere Theorie vorhanden ist. Recherchiere, welche bessere Theorie die „Theorie der Vier säftelehre“ ablösen konnte. Entwickelt mithilfe von Begriffen, Argumenten und Ge dankenexperimenten zwei verschiedene Positionen: Po si tion A stützt die Theorie der Viersäftelehre, Position B greift sie an. Führt ein Sokratischen Gespräch zu dem Thema „Wo rin unterscheiden sich Nichtwissen und Ignoranz von einander?“. Haltet das Ergebnis in Form einer Allegorie fest. Findet zum Fall „Aderlass“ andere vergleichbare Fälle. Bezieht dafür auch Theorien aus den Bereichen Ökologie, Ökonomie, Pädagogik, … mit ein. Entwickelt eine Kasuistik verschiedener Fälle von Orientierungslosigkeit bzw. Arten des Nichtwissens. 1 2 3 4 5 N u r zu P rü fz w e c k e n E ig e tu m d e s C .C . B u c h n e r V e rl a g s | |
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