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Was wir wissen – was wir können 79 Was wir können Die Erzählung „Das Gewissen“ von Leo Tolstoi handelt von Trofim, der aus ärmsten Verhältnissen stammt und durch einen Raubmord zu Geld und Einfluss kommt. Mithilfe des Geldes kann er die reiche Bauers tochter Wassa heiraten. Alles im Leben ge lingt ihm. Je größer sein Erfolg, desto größer werden aber die Gewissensbisse. In einer Nacht gesteht Trofim seinem Sohn Alexander zwar nicht die Tat selbst, aber zu mindest die Qualen, die ihm sein Gewissen be reitet: „Jetzt will ich dir nur mitteilen, dass mich die Sache bereits seit vierzig Jahren quält. Von meinem Gewissen geängstigt, ging ich um Mitternacht auf das Grab des von mir Gekränkten und betete um Vergebung meiner Sünden. Da ließ sich aus dem Grabe eine Stimme vernehmen: ‚O Herr, bestrafe denjenigen, der mich ins Grab gebracht hat!‘ Darauf vernahm ich ei ne zweite Stimme: ‚Ich werde ihn strafen – nach vierzig Jahren.‘ Seit jener Zeit sind vierzig Jahre ver gangen. Ich erwarte die Strafe Gottes.“ „Du hast geträumt – weiter nichts“, sagte Alexander. „Du warst damals erregt, befandest dich in einer un natürlichen Situation, in bewusstlosem Zustande. Die Stimmen kamen nicht aus dem Grabe, noch vom Him mel, sondern aus deiner eigenen Einbildung, dei ne erregten Nerven erzeugten sie!“ „So dachte auch ich bisweilen“, sprach Trofim. „Dann aber dachte ich wieder, dass es Gottes Stimme war und dass Gott mich wirklich nach vierzig Jahren bestrafen werde. Du bist ein kluger und gebildeter Mensch, Alexander – sag’, glaubst du an Gott?“ „Natürlich nicht!“, entgegnete Alexander. „Wie kann heutzutage ein einigermaßen gebildeter Mann an Gott glauben?“ „Es sind aber nicht lauter Dummköpfe, die an ihn glau ben! Es sind doch auch ganz verständige Leute da runter – warum glauben die an Gott?“ „Weil sie über die Sache noch nicht tiefer nachgedacht haben. Wer darüber nachdenkt, glaubt nicht an Gott.“ „Also wird es auch kein letztes Gericht nach unserem Tode geben?“, fragte Trofim. „Nach unserem Tode“, antwortete sein Sohn, „werden die Menschen, die nach uns leben, über uns Gericht halten. Das Menschengeschlecht stirbt nicht aus, Geschlecht folgt auf Geschlecht, und jedes neue Geschlecht sammelt im mer neue Erfahrungen, wächst an Urteilskraft und ist daher dem älteren Geschlecht überlegen, dessen Ta ten es daraufhin prüft, ob sie gut oder schlecht wa ren. Das ist das wahre letzte Gericht, Väterchen! Die Wissenschaft gibt gar keinen Anhalt dafür, dass wir nach dem Tode irgendwo fortleben und vom Herrgott gerichtet werden.“ „Du bist also der Ansicht“, sagte der Vater, „dass un sere Seele zugleich mit dem Leibe stirbt?“ „Gewiss doch!“, erklärte der Sohn. „Betrachte einmal eine brennende Kerze: Sie brennt zu Ende, und ihr Feuer ist fort. Hast du schon einmal ein Feuer ohne Kerze oder sonstigen Brennstoff gesehen? Es kann kei nen lebendigen Menschen ohne Seele, aber auch kei ne Seele ohne lebendigen Körper geben.“ „Wenn du so sprichst“, sagte Trofim, „dann scheint mir alles, was du sagst, Wahrheit zu sein. Kaum aber vergeht einige Zeit, so wird mir wieder ganz schreck lich zumute, ich fürchte wieder Gottes Gericht und Strafe und weiß nicht, wie ich diese Furcht meines Gewissens vertreiben soll.“ „Du bist von Haus aus ein ganz gescheiter Mensch, Väterchen, aber du hast nicht viel gelernt und von Kindheit auf verschiedene Vorurteile in dich aufgenommen. Und was man sich in der Kindheit aneignet, davon trennt man sich auch im Alter nur schwer.“ Wer vertritt in Tolstois Erzählung die Heteronomie-, wer die Autonomiekonzeption des Gewissens? Begründe deine Zuordnung. Benenne mindestens zwei Möglichkeiten, wie Tro fim sein Gewissen entlasten könnte. Begründe, welche du empfehlen würdest. Wende Freuds Strukturmodell der Psyche (ÜberIch – Ich – Es) auf Trofims Gewissenskonflikt an. 1 3 2 Lösungen: 1Trofim:Autonomiekonzeption. Trofim erkennt sein Gewissen als Basis für sein eigenes moralisches Urteilen an. Alexander:Heteronomiekonzeption. Das Gewissen ist das zufällige Produkt äußerer Umstände wie Milieu, physischer Zustand, Situation, Erziehung, Zeitgeist. 2Möglichkeit 1:Die Schuld (öffentlich) bekennen, sie bereuen und versuchen, das, was wiedergutzumachen ist, auch zu tun. Möglichkeit 2:Dem Gewissen den Rang einer moralischen Ins tanz aberkennen. 3Über-Ich:Moralische Instanz ist die Religion, in der Kindheit erlernt und für wahr befunden. Trofim hat keine wissenschaftliche Bildung, die eine alternative Orientierung bieten könnte. Es:Sexuelle Begierde, die reiche Bauerstochter Wassa zu besitzen; Antrieb, das arme Herkunftsmilieu zu verlassen. Ich:Vertuschung des Raubmords, um einerseits Wassa als Braut zu bekommen und andererseits die religiösen Normen zu unterlaufen. A u fg a b e n N u r zu P rü fz w e c k e n E ig e n tu m d e s C .C . B u c h n e r V e rl a g s | |
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