Volltext anzeigen | |
eine Geschichte der Kriege zwischen den Staaten Europas, aber gerade hierin zeigt sich ihr Paradox: Während die Staaten Asiens über die Jahrtausende hinweg entweder schnell entstehen und vergehen oder aber zu großen, despotischen Hegemonialmächten aufsteigen, balancieren sich die vielen Staaten Europas für die Dauer gegenseitig aus. Das Heilige Römische Reich konnte nur deshalb bis 1806 bestehen, weil es gestaltlos und ohne Macht war und innerhalb seines Rahmens einer Vielzahl von Staaten eine weitgehend souveräne Existenz erlaubte; ähnliches galt in größerem Maßstab für Europa. Immer wenn ein Staat so viel Macht zusammenballte, dass er Europa zu beherrschen drohte, schlossen sich die übrigen Staaten zu Koalitionen zusammen, um die Übermacht des Einzelnen zu verhindern; war der Herausforderer niedergeworfen, kam es zu anderen Machtungleichgewichten, die zu neuen Bündnissen und neuen Kriegen führten. Dabei blieb aber der Besiegte stets Teil des Ganzen, wurde nie von der Landkarte gewischt, sondern als gleichberechtigter Partner im europäischen Machtgefl echt akzeptiert – die Teilungen Polens Ende des 18. Jahrhunderts blieben lange eine große Ausnahme. So bildete sich trotz häufi ger Kriege ein stabiles europäische Mächtegleichgewicht heraus, dessen Zusammenspiel rechtlich geregelt war: das ius publicum europaeum, das europäische Völkerrecht entstand und damit ein Instrument des vernünftigen Ausgleichs zwischen den Staaten, das bis zum Ersten Weltkrieg seine Funktionsfähigkeit zur Aufrechterhaltung der europäischen balance of power unter Beweis stellte. Damit ist eins der entscheidenden Elemente europäischer Identität benannt: die Vielfalt der Ideen, Kulturen, Regionen und Staaten, die sich dadurch auszeichnet, dass sie dauerhaft bleibt, also nie für längere Zeit der Vorherrschaft einer Idee, einer Kultur oder eines Staates anheimfällt. Jeder Versuch der Hegemonie ruft Gegner auf den Plan, und aus der Auseinandersetzung entsteht früher oder später neue Heterogenität. Das gilt auch für Religionen und Ideologien; selbst das für Europa so prägende Christentum hat schließlich den Kampf um die geistige Vorherrschaft aufgeben müssen, nachdem es bereits zuvor in einander widerstreitende Konfessionen zerfallen war. Das gilt für kulturelle Ausdrucksformen, die für sich Alleingültigkeit beanspruchen; so unterlag schließlich die französische Hofkultur des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, die Geist und Politik Europas in ihrer Epoche beherrschte, den romantischen Nationalkulturen des neunzehnten Jahrhunderts. Das gilt insbesondere für das europäische Staatensystem, dem es stets gelang, Vorherrschaftsansprüche seiner Mitglieder zurückzuweisen, ob es sich um Schweden im siebzehnten, Frankreich im achtzehnten und beginnenden neunzehnten Jahrhundert oder um Deutschland und Russland im Verlauf der letzten zweihundert Jahre handelte. Erst Hitlers wahnwitzige Weltherrschaftspläne sollten die Selbstregulierungskraft Europas überfordern, die Rettung kam über den Atlantik und aus der asiatischen Steppe. Die Vielfalt überdauert, indem sie sich selbst reguliert: Das trifft nicht nur auf die Beziehungen der Staaten untereinander zu, sondern auch auf das Verhältnis der einzelnen Staaten zu ihren Bürgern und auf die Beziehungen der Bürger untereinander. Der balance of power, also dem rechtsförmig geregelten Ausgleich zwischen den politischen Kräften im Staatensystem, entspricht in der Innenpolitik die Demokratie: Hier geht es um den Ausgleich zwischen den Interessen der Bürger und ihrer Vereinigungen auf rechtsförmiger Grundlage, meist in Gestalt einer Verfassung; nicht nur die Rechte, Pfl ichten und Interessen der einzelnen Bürger werden ausbalanciert, sondern auch die Befugnisse der staatlichen Institutionen, die sich gegenseitig kontrollieren, und deren Macht auf diese Weise begrenzt wird. Hagen Schulze, Die Wiederkehr Europas, Berlin 1990, S. 41 46 3. Beispiel/Argument für Ausgangsthese (Geschichte Europas zwar durch Kriege zwischen den vielen Nationalstaaten geprägt, dadurch jedoch dauerhaftes Ausbalancieren der Staaten) These (stabiles Mächtegleichgewicht als Kern Europas) These (dauerhafte Vielfalt prägt europäische Identität) Beispiele untermauern These Hervorhebung der Ausnahme durch eigenen Absatz Fazit/Synthese (Vielfalt überdauert, indem sie sich selbst reguliert, Selbstregulation schafft Ausgleich und Stabilität, die wiederum für Vielfalt bürgt – „Harmonie der Dissonanzen“) 45 50 55 60 65 70 75 80 85 51 Nu r z u P üf zw ec ke n Ei ge nt um d es C .C .B uc hn er V er la gs | |
![]() « | ![]() » |
» Zur Flash-Version des Livebooks |