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In Europa gibt es heute etwa 50 Staaten. Die meisten davon verstehen sich als Nationalstaaten. Als Nation wird gewöhnlich das sich zusammengehörig fühlende Volk mit gleicher Geschichte, Sprache, Kultur und gleichem Recht angesehen, als Nationalstaat die Zusammenfassung dieser Nation in einem Staat mit gemeinsamer Regierung und Verfassung. Die Menschen neigen dazu, historische Gemeinschaften auch als biologische Abstammungsgemeinschaft zu interpretieren. Oft wird die Herkunft eines Volkes mit einem Ursprungsmythos verbunden, der ins Mittelalter, in die Antike oder sogar in die vorgeschichtliche Zeit zurückreicht. Seit dem Mittelalter gibt es etwa die Vorstellung, dass „die Deutschen“ von „den Germanen“ abstammen. Im 16. Jahrhundert erhielt sie mit dem Cheruskerfürsten Arminius ein populäres Gesicht. Als Anführer der aufständischen germanischen Stämme hatte er die Legionen des römischen Statthalters Varus im Jahr 9 n. Chr. vernichtend geschlagen. Die Varusschlacht wurde zum Symbol für den Freiheitskampf des germanischen Volkes gegen die Fremdherrschaft, Arminius – später „Hermann“ genannt – zum „Befreier Germaniens“ und sogar fälschlicherweise zum „Gründungsvater“ der Deutschen stilisiert. Die Vorstellung vom modernen Nationalstaat entwickelte sich während des 18. Jahrhunderts im Umfeld der Französischen Revolution und wurde zu einer Leitvorstellung des 19. Jahrhunderts. Zunächst galt „Nation“ als Gemeinschaft rechtlich gleichgestellter Staatsbürger, die in Freiheit und Selbstbestimmung in einem eigenen Nationalstaat leben. Bald schon verband sich das Nationalgefühl auch mit einer Abgrenzung gegenüber anderen, die nicht zur eigenen Nation zählten. Eine große Rolle für die um 1800 in ganz Europa erstarkenden Nationalbewegungen spielte die Erfahrung von Fremdherrschaft. Der gemeinsame Kampf gegen die Eroberungspolitik Napoleon Bonapartes förderte Patriotismus und Nationalbewusstsein seiner Gegner. Nach dem Wiener Kongress 1815 verstärkten sich in ganz Europa, vor allem in den Vielvölkerstaaten, die Forderungen nach Nationalstaaten mit freiheitlichen Verfassungen. Ein deutscher Nationalstaat konnte erst mit der Gründung des Deutschen Kaiserreiches 1871 verwirklicht werden. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts trug ein übersteigertes Nationalbewusstsein zu einer Abwertung anderer Nationen und zur Entwicklung von Feindbildern bei. Diese verfestigten sich in den Jahrzehnten zwischen dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 und dem Ersten Weltkrieg zwischen Deutschland und Frankreich zu einem „Erbfeindschaftsdenken“, dessen Wurzeln und konstruierte Stereotypen charakteristisch für Konfl ikte im Zeitalter der Nationalstaaten sind. Es überdauerte den Ersten Weltkrieg und prägte sowohl den Vertrag von Versailles als auch bis in die Mitte der 1920er-Jahre das verbissene Ringen Frankreichs und Deutschlands um Interpretation, Durchsetzung oder Revision des Vertragswerkes. Die Bemühungen von Gustav Stresemann und Aristide Briand um Anerkennung der berechtigten Interessen des jeweils anderen Staates und um konstruktive Zusammenarbeit führten zum Vertrag von Locarno und zur Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund. Sie wurden aber in beiden Ländern von nationaler Agitation bekämpft, die eine Preisgabe nationaler Interessen beklagten. Diese ablehnende Haltung gegenüber jeder Form von Kompromiss kennzeichnete auch die aggressive Lebensraumpolitik des Nationalsozialismus und mündete in den „totalen Krieg“. Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges griffen Politiker die Europa-Idee als Frieden sichernde Alternative zum Nationalismus wieder auf. Flankiert von der deutschfranzösischen Aussöhnung, die einen ersten Höhepunkt im Elysée-Vertrag des Jahres 1963 fand, führte sie ausgehend vom Schuman-Plan (1950) zur Gründung europäischer Institutionen wie dem Europarat, der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft oder Euratom. Ihr gemeinsames Ziel ist es bis heute, Konfl ikte durch verbindliche internationale Regelwerke, vor allem aber durch gemeinsame Interessen der Staaten zu verhindern. p Veranschaulichen Sie in einem Schaubild die verschiedenen Stränge, auf welche die Konstrukte „Volk“ und „Nation“ aufbauen. Auf einen Blick 53 Nu r z u Pr üf zw ec ke n Ei g nt um d es C .C .B uc ne r V er la gs | |
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