Volltext anzeigen | |
155 Wie geht es weiter? Lilly erfährt immer mehr über die Vergangenheit ihrer Mutter und ihrer Tante. Nach einem komplizierten Einbürgerungsverfahren darf sie in Jena bleiben. Das Einleben in ihre neue Umgebung und in den neuen Staat mit seiner Propaganda ist für sie eine große Herausforderung … derzupassen schien. Ich fuhr durch die Altstadt wie in einem Rausch. Ich war zu Hause – endlich! Im Zentrum, wo sich neuere schmucklose Nutzbauten aneinanderreihten, fielen mir wieder die sonderbaren Schilder auf, von denen ich bereits am Bahnhof eines gesehen hatte. In dicken Lettern trugen sie Aufschriften wie: Dein Arbeitsplatz – dein Kampfplatz für den Frieden!, oder: Wer fl eißig lernt, erreicht auch viel: Der Sozialismus ist das Ziel! „Was soll denn das?“, fragte ich Till. „Wer hängt denn hier alle diese Sprüche auf?“ „Na, die Partei.“ „Und warum?“ Er zuckte mit den Achseln. „Mama sagt, sie will uns auf Schritt und Tritt begleiten.“ Ich blieb vor einem Plakat stehen und las vor: „Wer den Frieden will erhalten, muss kämpfen gegen im-pe-ri-a-listische Gewalten. – Verstehst du das?“ „Klar“, sagte Till frohgemut. „Die Imperialisten seid ihr.“ Das schwierige Wort kam ihm völlig problemlos über die Lippen. Ich fi el aus allen Wolken. „Wir? Aber was heißt denn das überhaupt?“ Tills Gesicht wurde lang. „So weit sind wir in der Schule noch nicht gekommen“, gab er widerwillig zu, um gleich darauf mit heller Stimme auszurufen: „Da kommt die Elektrische!“ Ich sah mich alarmiert um. Ein durchdringendes Quietschen und Schleifen näherte sich von der nächsten Straßenecke her, als wären bereits Kettenfahrzeuge losgeschickt worden, um Witterung von mir aufzunehmen. Sekunden später entpuppte sich die „Elektrische“ als eine winzig gelbe Straßenbahn, die wie eine Leihgabe von einem Kinderkarussell aussah, und schepperte mit einem Höllenlärm auf uns zu. „Da sollen wir mit den Rädern reinpassen?“, fragte ich ungläubig und manövrierte mein Fahrrad, das ich fluchtbereit herumgerissen hatte, etwas verschämt wieder zurück. „Also, du kannst Fragen stellen“, sagte Till kopfschüttelnd. Die „Elektrische“ war sogar noch billiger als eine Fahrt auf dem Kinderkarussell. Sie kostete ganze 10 Pfennig für jeden von uns, Fahrrad inklusive, und fuhr uns dafür einige Kilometer aus der Stadt heraus in die malerisch gelegenen Vororte. Genießen konnte ich die Fahrt allerdings nicht. Ich fragte mich, wie ich mich verhalten sollte. Ich hatte nicht geahnt, dass sie hier tatsächlich Plakate gegen uns aufhängten! Wenn mich nicht alles täuschte, riefen sie darin sogar zum Kampf gegen uns auf! Verstohlen sah ich mich in der Straßenbahn um. Die Passagiere sahen allesamt ziemlich harmlos aus, aber was würde geschehen, wenn sie entdeckten, wer hier mitten unter ihnen saß? Würde ich überhaupt noch dazu kommen, herauszuschreien, dass auch wir im Westen nichts anderes wollten als den Frieden? Visum hin oder her, ich war richtig froh, als wir am Ziel ankamen, aussteigen und uns auf unsere Räder schwingen konnten. Ich strampelte wie verrückt, um von der Haltestelle wegzukommen. Aus: Anne C. Voorhoeve: Lilly unter den Linden, Ravensburg 2004, S. 168 ff. Anne C. Voorhoeve: Lilly unter den Linden. Ravensburger Buchverlag, Ravensburg 2004. 288 Seiten 30003_1_1_2015_124_203_kap03.indd 155 05.02.15 08:33 Nu r z u Pr üf zw ec ke n Ei ge nt um d es C .C . B uc hn er V er la gs | |
« | » |
» Zur Flash-Version des Livebooks |