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27 Q2 Das Elend der Bevölkerung In einem Roman berichtet Lion Feuchtwanger (1884-1959) über den Jahresanfang 1923: Auf dem Lande zwar saß man schuldenfrei, lebte mit der zunehmenden Infl ation immer üppiger; immer mehr Bauern hielten sich Automobile und Rennrösser. In den Städten aber stieg der Hunger. Das Brot wurde gesundheitsschädlich wie im Krieg.1 […] In den Schulen saßen die Kinder ohne Frühstück, wurden ohnmächtig während des Unterrichts. Tuberkulose2 griff um sich […]. Die Säuglingssterblichkeit stieg. Die jungen Mütter, gezwungen zur Berufsarbeit, mussten darauf verzichten, ihre Kinder zu stillen. Wieder dienten muffi ge Höhlen als Wohnungen, Zeitungspapier als Wäscheersatz, Pappschachteln als Kinderbetten. Es war ein kalter Winter. An der Ruhr bedeckte sich immer weiter das Land mit hochgeschichteter Kohle […] und ein großer Teil Deutschlands fror in ungeheizten Räumen. Lion Feuchtwanger: Erfolg. Drei Jahre Geschichte einer Provinz (1929), Frankfurt am Main 1984, S. 595 f. 1 Im Ersten Weltkrieg wurde dem Brotmehl Kleie (ungenießbarer Abfall beim Mahlen) zugefügt, um das Brotgewicht zu erhöhen. 2 Tuberkulose: Lungenkrankheit. Sie breitete sich aus, weil das Immunsystem der Menschen durch die Unterernährung geschwächt war. 5 10 15 5 10 15 Q3 Ein Auto für 10 Pfennige Der Schriftsteller Leonhard Frank (1882-1961) schreibt in seiner Autobiografi e zum Jahr 1923: Zu dieser Zeit überschlug die Mark sich Tag für Tag schneller in den Abgrund. Ein Briefbogen war beträchtlich mehr wert als ein Tausendmarkschein. […] Ein Bekannter Michaels hatte ein Jahr vorher ein neues Benz-Cabriolet gekauft, gegen einen Wechsel1, fällig in einem Jahr, und ihn jetzt mit Infl ationsmark eingelöst. Das neue Auto kostete ihn den Goldwert2 von 10 Pfennigen – eine Zehnpfennigmarke. Die Sparkassenbücher von Millionen kleiner Leute, die jahrzehntelang Groschen zu Groschen gelegt hatten, für ihr Alter, waren zu Papier geworden. Die übergroße Not riss Tausende dieser beraubten hoffnungslosen Alten in den Selbstmord. Leonhard Frank: Links wo das Herz ist, München 1963, S. 92 f. 1 Wechsel: Zahlungsverpfl ichtung 2 Goldwert: Wert der Mark vor 1914 Q4 Zweitverwertung Kinder mit Flugdrachen, gebastelt aus wertlos gewordenen Banknoten. Foto vom Herbst 1923. 1. Beschreibe den Ablauf des Infl ationsprozesses seit 1914 (Verfassertext, M1). 2. Erläutere den Witz in Q1. Welche Folgen hatte die Infl ation für die Bevölkerungsmehrheit? (Verfassertext, Q2) 3. Erklärt, welche Bevölkerungsgruppen man als Gewinner und welche als Verlierer der Infl ation bezeichnen kann (Q3). 4. Diskutiert und erläutert, welche Schichten der Bevölkerung jahrzehntelang bis heute ausdrücklich oder insgeheim Angst vor einer galoppierenden Infl ation haben. M1 Entwicklung des Geldwertes 1914-1923 Offi zieller Wechselkurs, 1 US-Dollar kostet1 Wert eines Guthabens von 100 000 Mark Wertverlust gegenüber 1914 Juli 1914 4,20 100 000,00 0,0 % Juli 1919 14,00 27 855,00 72,1 % Juli 1920 39,50 10 638,00 89,4 % Juli 1921 76,70 5 476,00 94,5 % Januar 1922 191,80 2 189,00 97,8 % Juli 1922 493,20 851,00 99,1 % Januar 1923 1 972,00 23,46 100,0 % Juli 1923 353 412,00 1,19 100,0 % September 1923 98 860 000,00 0,00 100,0 % Oktober 1923 25 260 208 000,00 0,00 100,0 % November 1923 4 200 000 000 000,00 0,00 15. November 1923 4,20 Zahlen nach: Herbert Prokasky: Kriegsinfl ation und Weimarer Republik, in: Geschichte Lernen, Heft 67 (1999), S. 31 und Karlheinz Dederke: Reich und Republik. Deutschland 1917-1933, Stuttgart 81996, S. 279 1 Angaben in Mark 30003_1_1_2015_008_059_kap01.indd 27 05.02.15 08:21 Nu r z u Pr üf zw ec ke n Ei ge nt um d es C .C . B uc hn er V er la gs | |
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