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274 Die Herrschaft des Nationalsozialismus in Deutschland und Europa Erscheinungsformen des nationalsozialistischen Nationalismus Gesellschaftlicher und politischer Umbruch? Die NS-Propaganda stilisierte Hitler zum Retter der von Bismarck gegründeten Nation und stellte damit eine Kontinuität zum Kaiserreich her. Sie bediente sich der Ideologie einer besonderen deutschen Kulturnation und knüpfte an nationalistische und antisemitische Vorstellungen aus dem 19. Jahrhundert an. „Volk“ und „Nation“ wurden nun zu rassistischen Begriffen. Wer kein „deutsches Blut“ besaß, wurde aus der „Volksgemeinschaft“ ausgeschlossen. Die „Blut-und-Boden-Ideologie“ lieferte eine Fortsetzung der „Germanisierungs-“ und Kolonialpolitik des 19. Jahrhunderts mit noch brutaleren Mitteln: nationale, soziale, religiöse und politische Minderheiten wurden ausgegrenzt, verfolgt und vernichtet und der Krieg als Mittel zur Vergrößerung des „Lebensraumes“ gerechtfertigt. Hilfreich erwies sich das aus dem Kaiserreich stammende Obrigkeitsdenken. Es ebnete mental den Weg zum totalitären „Führerstaat“. Im „Dritten Reich“ wurden die öffentlichen Gewalten sowie die Medien systematisch „gleichgeschaltet“. Eine parlamentarische Kontrolle der Regierung sowie unabhängige Gerichte gab es nicht mehr. Kritik an Partei und Regierung wurde zum Verbrechen erklärt. Die NS-Propaganda stellte ideologische Kontinuitäten zum Kaiserreich her und grenzte sich deutlich von den sozialen und demokratischen Vorstellungen der Weimarer Republik ab. Trotzdem: Der Weg vom Wilhelminischen Obrigkeitsstaat zu Hitlers „Führerstaat“ besteht aus vielen Umbrüchen.* Sprache im Nationalsozialismus Die NS-Ideologie schlug sich auch in der Sprache nieder. Sie wurde von der NS-Propaganda gelenkt und manipuliert, um Einfl uss auf Wahrnehmung und Gefühle der Bevölkerung zu nehmen. Der offi zielle Sprachgebrauch sollte alle erreichen. Er war daher bewusst einfach gestaltet. Schematische Begriffe und kurze, parataktische Sätze stellten ein leichtes Verständnis sicher. Um ein schlichtes Freund-Feind-Denken zu vermitteln, wurden ideologische Gegensatzpaare wie „Arier“ und „Juden“ ständig wiederholt. Entlehnungen aus den Naturwissenschaften dienten dabei der Entmenschlichung der angeblichen „Volksfeinde“ zu „Parasiten“ oder „Krebsgeschwüren“ am „gesunden Volkskörper“. Die NS-Sprache versuchte Terror und Krieg zu verbergen oder zu rechtfertigen. Zugleich verwies sie immer auf die Stärke und Dynamik der „Volksgemeinschaft“. In öffentlichen Reden benutzte man immer wieder Superlative und absolute Adjektive**. Zugleich verharmlosten Euphemismen wie „Euthanasie“ und „Endlösung“ die grausamen Verbrechen der Nationalsozialisten (u M). Doch die Sprachpolitik des NS-Regimes erreichte nicht alle. Widerstandsgruppen erinnerten mit ihren Aktionen und Flugblättern an aufklärerische, christliche und demokratische Werte. Auch nichtkonforme Intellektuelle distanzierten sich mittels Parabeln oder Klassikerzitaten vom „Zeitgeist“. Ihre Anspielungen setzten jedoch ein hohes Bildungsniveau bei den Lesern voraus. Tradition oder Umbruch? Diskutieren Sie die Beziehung zwischen Kaiserreich und NS-Regime in Gesellschaft und Politik. * Zur Frage nach der Kontinuität vom Kaiserreich zum NS-Regime vgl. auch S. 180 f. ** absolute Adjektive: Adjektive, die sich nicht steigern lassen, z. B. tot, einzig, optimal i „LTI – Notizbuch eines Philologen.“ Titel der Ausgabe von 2015. Autor des 1947 erstmals veröffentlichten Buches über die Sprache des „Dritten Reiches“ (lat. Lingua Tertii Imperii) ist der Romanist Victor Klemperer (1881-1960). Als Jude hatte er 1935 seine Professur an der Technischen Universität Dresden verloren. Er überlebte das „Dritte Reich“ nur, weil seine christliche Frau sich nicht von ihm scheiden ließ. 4677_1_1_2015_218-275_Kap7.indd 274 17.07.15 12:08 Nu r z u Pr üf zw ck en Ei g nt um d es C. C. Bu ch ne r V er la gs | |
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