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88 Erinnern Erinnern Der Erste Weltkrieg – die Schuldfrage in internationalen Debatten von den 1950er-Jahren bis heute Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges bemühten sich deutsche Historiker um den Nachweis, Deutschland habe keine Schuld am Krieg. Eine objektivere Beschäftigung mit den Verantwortlichkeiten setzte erst nach dem Zweiten Weltkrieg ein. In diesem Prozess fanden bemerkenswerte Verschiebungen und heftige Kontroversen statt. Im folgenden dokumentieren wir Aussagen von Historikern aus der Zeit von 1951 bis 2014. M Alte und neue Positionen a) In einer gemeinsamen Erklärung deutscher und französischer Historiker vom Oktober 1951 heißt es: Die Dokumente erlauben es nicht, im Jahre 1914 irgendeiner Regierung oder einem Volk den bewussten Willen zu einem europäischen Kriege zuzuschreiben. [...] Die deutsche Politik zielte 1914 nicht auf die Entfesselung eines europäischen Krieges; sie war in erster Linie bedingt durch die Bündnisverpfl ichtung gegenüber Österreich-Ungarn. Um der als gefährlich empfundenen Aufl ösung dieses Staates entgegenzuwirken, hat man der Wiener Regierung Zusicherungen gegeben, die einer Blankovollmacht gleichkamen. Die deutsche Regierung war von der Vorstellung beherrscht, eine Lokalisierung des Konfl iktes mit Serbien würde wie 1908/09 möglich sein; gleichwohl war sie bereit, nötigenfalls die Gefahr eines europäischen Krieges auf sich zu nehmen. Infolgedessen hat sie es versäumt, rechtzeitig mäßigend auf die Politik Österreichs einzuwirken. Erst seit dem 28. Juli hat Bethmann Hollweg Schritte in dieser Richtung unternommen. Unter dem Eindruck, dass der europäische Konfl ikt unvermeidlich sei, hat Moltke dagegen als Chef des Generalstabes am 30. Juli aus rein militärischen Erwägungen auf beschleunigte Anordnung der allgemeinen Mobilmachung in Österreich-Ungarn gedrängt. b) Fritz Fischer (1908 1999), dessen Buch „Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/1918“ im Jahr 1961 einen Streit zwischen älteren und jüngeren Historikern ausgelöst hat, fasst seine Position 1965 in einem Zeitungsartikel so zusammen: Ich selbst habe noch auf dem Historikertag in Berlin im Oktober 1964 die Ansicht vertreten, Deutschland habe im Juli 1914 bewusst das Risiko eines großen europäischen Krieges auf sich genommen, weil ihm die Situation so günstig wie nie zuvor schien. In Verschärfung meiner damaligen Ausführungen stelle ich heute fest, gestützt auf allgemein zugängliches wie auch auf unveröffentlichtes Material: Deutschland hat im Juli 1914 nicht nur das Risiko eines eventuell über den österreichisch-serbischen Krieg ausbrechenden großen Krieges bejaht, sondern die deutsche Reichsleitung hat diesen großen Krieg gewollt, dementsprechend vorbereitet und herbeigeführt. c) Christopher Clark, geboren 1960, kommt aus Australien, lehrt Neuere Europäische Geschichte in Cambridge und hat über die Geschichte Preußens geforscht. In seinem 2012 in Großbritannien und 2013 in Deutschland veröffentlichten Werk schreibt er: Der Kriegsausbruch von 1914 ist kein Agatha-Christie-Thriller, an dessen Ende wir den Schuldigen im Konservatorium über einen Leichnam gebeugt auf frischer Tat ertappen. In dieser Geschichte gibt es keine Tatwaffe als unwiderlegbaren Beweis, oder genauer: Es gibt sie in der Hand jedes einzelnen wichtigen Akteurs. So gesehen war der Kriegsausbruch eine Tragödie, kein Verbrechen. Wenn man dies anerkennt, so heißt es keineswegs, dass wir die kriegerische und imperialistische Paranoia der österreichischen und deutschen Politiker kleinreden sollten, die zu Recht die Aufmerksamkeit Fritz Fischers und seiner historischen Schule auf sich zog. Aber die Deutschen waren nicht die einzigen Imperialisten, geschweige denn die einzigen, die unter einer Art Paranoia litten. Die Krise, die im Jahr 1914 zum Krieg führte, war die Frucht einer gemeinsamen politischen Kultur. Aber sie war darüber hinaus multipolar und wahrhaft interaktiv – genau das macht sie zu dem komplexesten Ereignis der Moderne, und eben deshalb geht die Diskussion um den Ursprung des Ersten Weltkrieges weiter, selbst ein Jahrhundert nach den tödlichen Schüssen Gavrilo Princips an der Franz-Joseph Straße. 5 10 15 20 35 40 45 50 25 30 4677_1_1_2015_048-089_Kap2.indd 88 17.07.15 11:58 N r z u Pr üf zw ec ke n Ei ge nt um d e C. C. Bu ch ne r V er l gs | |
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