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ebenso wie der Giersch durch den Garten randaliert und zu seinem Recht kommt, sprießt immer wieder erhellende Gegenwartsanalyse aus Wagners Gedichten, ohne dass sie dem Leser aufdringlich oder gar moralinsauer1 unter die Nase gerieben würde: Wir können noch so mit den Mitteln der Rationalität unsere Oberflächen zurechtstutzen, wir können alles strukturieren und geradebiegen – am Ende bricht sich die Natur ihren Weg. Und wir können nur stumm erstaunt zuschauen. Der spöttische Blick, den wir dabei zu spüren meinen, kommt nicht von der Natur selbst, sondern ist allenfalls unsere eigene, gerade krät ig ins Stolpern geratene Hybris2, die auf uns zurückgespiegelt wird. Was aber die Kunst von Jan Wagner ausmacht und was ihn zu einem nicht nur der virtuosesten, sondern gleichermaßen auch zu einem der bescheidensten zeitgenössischen Lyriker macht: Er ist jemand, der die klassischen poetischen Formen wie wenige andere beherrscht, der sich aber auch nicht scheut, diesen mit einer gewissen Ironie zu begegnen. Und so vollziehen die Gedichte, was sie inhaltlich transportieren, auch auf formaler Ebene nach. Das Aut aktgedicht „giersch“ etwa kommt als klassisches Sonett daher, eine Form, die traditionell die harmonische Versöhnung des vermeintlich Gegensätzlichen vollführt. Mithin: Nicht nur die Beherrschung der Welt durch den Menschen, sondern vor allem auch der Beherrschung des Stof es durch den Dichter. Bei Wagner aber passiert genau das Gegenteil. Während äußerlich die Form gewahrt bleibt, tobt der Giersch im Inneren der Zeilen, überlagert die Sprache, plötzlich ist vor lauter schier, sprießt, schiebt, kirsche, kies nichts mehr zu hören als lauter: Giersch. Wenn man Jan Wagner liest – was in der Folge des Preises der Leipziger Buchmesse hof entlich viele Menschen tun werden – dann kann man aber die für manche erstaunlichen Erfahrungen machen, dass Lyrik weder wirklichkeitsabgewandt noch gegenwartsfern ist. Sondern, wenn es gute Lyrik ist, ein Stück verdichteter Wirklichkeitsbetrachtung. 5 Vergleicht eure Interpretationsergebnisse mit den Aussagen, die die Verfasserin im Text zu „giersch“ trifft. k Erläutert in diesem Zusammenhang auch den Satz: 6 Fasse zusammen, wie die Verfasserin den Dichter Jan Wagner bewertet. 15 20 25 30 35 40 1 moralinsauer: abwertend für: in übertriebener, aufdringlicher Weise sittenstreng, moralisierend 2 die Hybris: Anmaßung, Hochmütigkeit, Selbstgefälligkeit „Der spöttische Blick, den wir dabei zu spüren meinen, kommt nicht von der Natur selbst, sondern ist allenfalls unsere eigene, gerade krät ig ins Stolpern geratene Hybris, die auf uns zurückgespiegelt wird.“ (Z. 23 f .) 131Aspekte moderner Lyrik entdecken N u zu P rü fz w c k e n E ig e n tu m d s C .C . B u c h e r V e rl a g s | |
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