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107Die Renaissance – neues Wissen, neues Denken M2 Wissenschaft für Frauen? Der Dialog zwischen dem Abt Antronius und der gebildeten Magdalia ist dem Bestseller „Colloquia familiaria“ (1518, lat.: „Gespräche“) des humanistischen Gelehrten Erasmus von Rotterdam entnommen. Erasmus behandelt darin ethische Fragen in einer satirischen Dialogform, die man ähnlich bei Lukian (2. Jh. n.Chr.) fi ndet, aber ebenso – und mustergültig für die Antike – schon bei Platon (4. Jh. v. Chr.). Antronius: Ich weiß nicht, wie es kommt, dass die Wissenschaft für eine Frau ebensowenig passt wie der Packsattel für den Ochsen. Magdalia: Aber du kannst doch nicht leugnen, dass der Packsattel für einen Ochsen immer noch besser passt als der Bischofshut für einen Esel oder ein Schwein! Welche Meinung hast du von der Jungfrau Maria? Antronius: Die allerbeste. Magdalia: Hat sie sich nicht mit Büchern beschäftigt? Antronius: Das hat sie schon, aber nicht mit solchen. Magdalia: Was las sie denn? Antronius: Die Stundengebete. Magdalia: Nach welcher Regel? Antronius: Nach der Benediktinerregel. Magdalia: Nun gut. Was denkst du von Paula und Eustochium1? Haben sie sich nicht mit der Heiligen Schrift beschäftigt? Antronius: Aber heute ist das außergewöhnlich. Magdalia: So außergewöhnlich war damals ein ungelehrter Abt, und heute ist das gang und gäbe; damals ragten die Fürsten und Kaiser nicht weniger durch ihre Bildung als durch ihre Machtstellung hervor. Aber es ist auch heute doch nicht so außergewöhnlich, wie du glaubst: Es gibt in Spanien und in Italien nicht wenige und besonders vornehme Frauen, die sich mit jedem beliebigen Manne messen könnten; in England die Frauen aus dem Hause des Morus, in Deutschland die Frauen aus der Familie Pirckheimer und Blarer.2 Und wenn ihr nicht achtgebt, wird es noch dahin kommen, dass wir in den Theologenschulen den Vorsitz führen und in den Kirchen Gottesdienst halten, und wir werden eure Bischofssitze mit Beschlag belegen. Antronius: Das wolle Gott verhüten! Magdalia: Nein, an euch wird es liegen, das zu verhüten. Wenn ihr aber so fortfahrt, wie ihr begonnen habt, dann werden eher die Gänse predigen als euch stumme Hirten ertragen. Ihr seht, dass sich die Bühne der Welt schon verändert: Entweder muss man seine Rolle niederlegen, oder es muss jeder seine Rolle spielen. Zitiert nach: Winfried Trillitzsch, Der deutsche Renaissance-Humanismus. Abriss und Auswahl, Leipzig 1981, S. 200 f. 1. Erasmus greift einige Gruppen oder Institutionen scharf an. Was wirft er ihnen indirekt vor? Klären Sie Sachverhalte, die für das Verständnis des Dialoges wichtig sind, beispielsweise seit wann es die Benediktinerregel gibt. 2. Erläutern Sie die positiven Werte und Leitbilder, die der Gesprächsausschnitt vermittelt. Wägen Sie deren Aktualität ab. 3. Überdenken und diskutieren Sie den hier gemeinten, aber auch den allgemeinen Sinn des Satzes: „Entweder muss man seine Rolle niederlegen, oder es muss jeder seine Rolle spielen.“ 1 Paula und Julia Eustochium gründeten um 400 n. Chr. ein Frauenkloster in Bethlehem. 2 Morus, Pirckheimer und Blarer waren Familien mit humanistischem Bildungsbewusstsein. 5 10 15 20 25 30 35 i Erasmus von Rotterdam. Ölgemälde (59 x 46,5 cm) von Quentin Massy, 1517. Nu r z ur P rü fzw ec ke n Ei ge tu m d es C .C . B uc hn er V er la gs | |
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