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57Das christliche Weltbild des Mittelalters M1 Erlösung im Jenseits Die im spätmittelalterlichen Frankreich lebende Schrift stellerin Christine de Pizan (1365 1430) richtet an „den von Gott geliebten und von der Welt verachteten Stand der Armen“ folgende Mahnung: Oh, ihr glückseligen Armen, die ihr, gemäß dem Urteilsspruch Gottes im Evangelium, als Belohnung für eure geduldig ertragene Armut des Himmelsreichs gewiss sein dürft, erfreut euch an dieser großen Verheißung einer alles andere übertreffenden Freude, die mit nichts vergleichbar ist. Eine solche Freude ist den Königen, Fürsten und Reichen nicht verheißen, sofern sie euch nicht im Geiste ähnlich werden, d. h. in ihrem Wollen arm sind und die Reichtümer und Eitelkeiten der Welt gering achten. Von Gott geliebte, teure Freunde, seid so gütig, unsere Ermahnung zu beherzigen, wenn sie euch zu Gehör kommen sollte, denn sie ruft euch in Erinnerung, was euch gegen die Anfechtungen der Ungeduld helfen kann, wenn sie euch wieder einmal aufgrund der großen Unannehmlichkeiten, die ihr erleiden müsst, überkommen sollten. So müsst ihr zum Beispiel oft Hunger und Durst leiden, Kälte und eine schlechte Behausung erdulden, habt keine Freunde, die die Gebrechen des Alters lindern, niemanden, der euch in Krankheit beisteht, und müsst zu all dem auch noch die Verachtung, Ablehnung und Gemeinheiten der Menschen ertragen, kurz es ist so, als wäret ihr keine Christen, sondern würdet zu einer anderen Kategorie von Menschen gehören. Wenn euch also die Anfechtungen der Ungeduld zusetzen, dann möge euch Frau Hoffnung zu Hilfe eilen, um zu verhindern, dass ihr deshalb die großen Schätze verliert, die euch verheißen sind, und, gewappnet mit Geduld und mit einem Schild aus Vertrauen bewehrt, heftig gegen diese Versuchungen anzukämpfen, bis ihr sie niedergemacht und den Sieg davongetragen hat. […] Indem ihr eure Armut geduldig ertragt, festes Vertrauen zu Gott habt und nichts anderes begehrt als das, was er für euch bestimmt hat, könnt ihr einen edleren Besitz und größere Reichtümer erlangen, als es in fünfhundert Welten geben könnte, und sie bleiben euch ewig erhalten. Wenn man alles genau betrachtet, habt ihr sogar Grund, Gott zu loben für den Stand, in den er euch berufen hat. Ihr müsst nur das Beste daraus machen. Christine de Pizan, Der Schatz der Stadt der Frauen. Ein Quel lentext aus dem Mittelfranzösischen, übersetzt von Claudia Probst, herausgegeben und eingeleitet von Claudia Opitz, Freiburg 1996, S. 255 258 1. Überprüfen Sie, ob der Textauszug nur als eine Rechtfertigung bestehender Zustände gedeutet werden kann. Lassen sich auch sozialkritische Ansätze entdecken? 2. Im Mittelalter konnte soziale Ungleichheit durch den Verweis auf Gott gerechtfertigt werden. Erläutern Sie, wie soziale Ungleichheit heute legitimiert werden kann. 3. Diskutieren Sie, inwieweit sich das Los der armen Menschen durch den Hinweis auf das Jenseits lindern ließ. 4. „Wir wollen hier auf Erden schon das Himmelreich errichten!“ Beurteilen Sie, wie dieser Aufruf des Dichters Heinrich Heine (1797 1856) aus dem 19. Jahrhundert zu verstehen ist. M2 Thesen der Universität Paris Das eher mit Glaubensfragen als mit wissenschaftlichen Fragen beschäftigte Abendland wird durch die Wiederentdeckung wichtiger Werke des griechischen Philosophen Aristoteles seit dem 12. Jahrhundert mit einem bislang unbekannten wissenschaftlichen Weltbild konfrontiert. Die ins Lateinische übersetzten naturphilosophischen Schriften des Aristoteles und deren Kommentare durch den arabischen Philosophen Averroës enthalten auch verschiedene der christlichen Lehre widersprechende Aussagen. Im schroffen Gegensatz zur Kirchenlehre stehende Auslegungen des Aristoteles und anstößige Parolen, wie sie besonders radikal an der Pariser Universität hervorgetreten sind, bilden für den Pariser Bischof Tempier Anlass zum Eingreifen. 1270 und 1277 verurteilt er insgesamt 219 Sätze, darunter die folgenden dort verbreiteten: 18. Die künftige Auferstehung darf vom Philosophen nicht zugestanden werden, weil es unmöglich ist, sie mit der Vernunft zu erforschen. – (Kommentar des Bischofs Tempier:) Irrtum, weil auch der Philosoph seinen Geist gefangen geben muss in dem Gehorsam Christi. 19. Die vom Leib getrennte Seele erleidet in keiner Weise etwas vom Feuer. 37. Nichts ist zu glauben, es sei denn evident1 oder aus Evidentem beweisbar. 40. Es gibt keine ausgezeichnetere Lebensform als das Sichfreihalten für die Philosophie. 116. Die Seele ist untrennbar vom Körper, und mit der Zerstörung der körperlichen Übereinstimmung wird die Seele zerstört. 145. Es gibt keine Frage, die vernunftgemäß zu erörtern ist, die der Philosoph nicht erörtern und entscheiden dürfte […]. 1 evident: klar ersichtlich, offenkundig 5 10 15 20 25 30 35 5 10 15 Nu r z ur P rü fzw ec ke n Ei ge nt um d es C .C . B uc hn er V er la gs | |
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