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Emmanuel Joseph Sieyès veröffentlichten Flugschrift mit dem Titel „Was ist der Dritte Stand?“ (u M1). Im Zusammenhang mit der Wahl hatten die Menschen auch die Gelegenheit, ihre politischen und sozialen Anliegen in Beschwerdehefte, die Cahiers de doléances, eintragen zu lassen. Sie sind erstrangige Quellen für die sozialen Verhältnisse und Konfl ikte im Ancien Régime und vermitteln Einblicke in Probleme, die den Menschen in Frankreich auf den Nägeln brannten. Die Monarchie stand bei dieser ersten modernen Volksbefragung nicht zur Diskussion. Unter den Generalständen, die am 5. Mai 1789 zusammengekommen waren, verfügten der Erste und Zweite Stand über jeweils 300, der Dritte Stand über 600 Abgeordnete. Abgestimmt wurde nach Ständen und nicht nach Köpfen. Jeder Stand verfügte nur über eine Stimme. Klerus und Adel erwarteten, eine weitere Schwächung der absolutistischen Monarchie durchsetzen zu können. Mit ihrer Zweidrittelmehrheit konnten sie Forderungen des Dritten Standes abwehren, einen Teil der Steuerlast zu übernehmen. Aber bereits die Zusammensetzung der Delegierten war eine Überraschung: Im Ersten Stand wurden nicht, wie erwartet, Bischöfe und Äbte, sondern ganz überwiegend einfache Priester gewählt. Auch im Zweiten Stand musste der hohe Adel dem niederen weichen. Daher gab es sowohl im Klerus als auch im Adel Abgeordnete, denen die Nöte der einfachen Bevölkerung nicht gleichgültig waren und die in Opposition zu ihren Standesgenossen standen. Der Dritte Stand war fast ausschließlich durch Vertreter des städtischen Bürgertums repräsentiert. Es überwogen mit Abstand bürgerliche Rechtsanwälte. Die Revolution der Deputierten Nach ergebnislosen Debatten über eine Änderung des Stimmengewichtes in den Generalständen vollzogen Abgeordnete des Dritten Standes einen revolutionären Akt. Sie erklärten sich am 17. Juni 1789 zur Nationalversammlung (Assemblée Nationale) und beanspruchten für sich, die gesamte französische Nation zu vertreten. 149 Kleriker und zwei Adlige schlossen sich ihnen an. Rousseaus Lehre von der Volkssouveränität aufgreifend, verkündete Sieyès, „dass es der Versammlung – und nur ihr – zukommt, den Gesamtwillen der Nation auszudrücken und zu vertreten; zwischen dem Thron und dieser Versammlung kann kein Veto, keine Macht des Einspruchs stehen“. Das war revolutionär! Die an Stand und Auftrag ihrer Wähler gebundenen Deputierten (imperatives Mandat) hatten sich eigenmächtig (souverän) zu Abgeordneten der gesamten Nation erklärt, die nur noch dem Allgemeinwillen (Volonté générale) dienen wollten. Damit hatte der Dritte Stand nicht nur den ersten Schritt vom politisch unmündigen Untertanen zum mitbestimmenden Staatsbürger (Citoyen) vollzogen, sondern darüber hinaus die Nation als politische Gemeinschaft rechtsgleicher Bürger gefordert. In ihr sollte es keine rechtlichen Unterschiede der drei Stände mehr geben. Als die Krone daraufhin kurzfristig den Versammlungsraum der Deputierten des Dritten Standes schloss, zogen die reformbereiten Abgeordneten aller drei Stände in eine nahe gelegene Ballsporthalle und beteuerten am 20. Juni in einer improvisierten Erklärung, dem Ballhausschwur, „niemals auseinanderzugehen und sich überall zu versammeln, wo es die Umstände gebieten sollten, so lange, bis die Verfassung des Königreiches ausgearbeitet ist und auf festen Grundlagen ruht“. Angesichts der Entschlossenheit der Deputierten gab der König sein alleiniges Recht preis, Ständeversammlungen einzuberufen, zu vertagen oder aufzulösen. Feierlich erklärte sich daraufhin am 9. Juli 1789 die Mehrheit der Abgeordneten zur Verfassunggebenden Nationalversammlung (Assemblée Nationale Constituante). Sie teilten von da an ihre Souveränität mit derjenigen des Königs. Emmanuel Joseph Sieyès (1748 1836): Angehöriger des Klerus und Politiker. Er war einer der einfl ussreichsten Wortführer des Dritten Standes, wurde Abgeordneter des Nationalkonvents und unterstützte 1799 als Mitglied der Regierung den Staatsstreich Napoleons. Ancien Régime: Mit dem Begriff Ancien Régime (frühere Herrschaftsform) wird die feudale Herrschaftsund Gesellschaftsordnung vor der Französischen Revolution von 1789 bezeichnet. Volkssouveränität: Das Volk ist Träger der Staatsgewalt; es übt sie aus durch Wahlen, Abstimmungen und Organe, die von ihm beauftragt sind. 163Die Französische Revolution Nu r z u Pr üf zw e ke n Ei ge nt um d s C .C .B uc hn er V la gs | |
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