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261Politische Kultur im Kaiserreich M3 Eine Untertanengesellschaft? In dem Essay „War die Wilhelminische Gesellschaft eine Untertanengesellschaft?“ fragt der Historiker Thomas Nipperdey nach der Berechtigung dieses Begriffes: Die deutsche Gesellschaft ist auch Untertanen gesellschaft gewesen, an Autorität und Gehorsam orientiert; der Komplex des Militarismus ist keinesfalls zu verharm losen. Weniger Repression und Korruption, wohl aber Imperialismus und Antisozialismus der Bürger selbst haben die Herrschaftsposition der alten Eliten und das alte System noch aufrechterhalten oder wenigstens bestehen lassen. Der Mangel an politisch-bürgerlicher Kultur ist eine der großen Belastungen der Weimarer Zeit gewesen. Aber: Die deutsche Gesellschaft vor 1914 war auch eine Gesellschaft des Rechts, der relativen Liberalität und der Arbeit; sie war altmodisch segmentiert und zugleich auf dem Wege zum modernen Pluralismus; sie war eine Gesellschaft der Reformen, des Abschieds vom 19. Jahrhundert und der Sozialreformen vor allem, sie war eine Gesellschaft der Kritik; sie hat sich verbürgerlicht und liberalisiert, und sie entwi ckelte aus sich auch das wachsende Potenzial einer kommenden Demokratie. Wenn das alles so ist, dann scheint es mir heute viel wichtiger, als gebannt […] auf das Phänomen der Untertanen zu starren, die Krise des Obrigkeits-Untertanensystems und auch das Erneuerungspotenzial zu analysieren. Dann erst werden wir das eigentliche historische Charakteristikum der Wilhelminischen Gesellschaft und Epoche erfassen. Thomas Nipperdey, Nachdenken über die deutsche Geschichte, München 21986, S. 184 f. 1. Arbeiten Sie heraus, welche Züge der Wilhelminischen Gesellschaft Nipperdey den (nicht unbestrittenen) Tendenzen zur Untertanengesellschaft gegenüberstellt. 2. Geben Sie die Aussage der beiden letzten Sätze (ab Zeile 17) in eigenen Worten wieder. M4 National und international Der evangelische Pfarrer Friedrich Naumann1 erläutert 1899, warum aus seiner Sicht nicht alle Völker Anspruch auf Selbstbestimmung haben: Wir müssen das „Nationalitätsprinzip“ in seinem geschichtlichen Werdegang erfassen, wenn wir es nicht töricht anwenden wollen. Es existiert keineswegs ein Recht auf Souveränität aller vorhandenen Nationen. Seit dem Römerstaat ist ein freies, unabhängiges Nebeneinander aller etwa möglichen Völker ein Unding, denn immer arbeitet seitdem der Begriff des Großstaats mit am Werden der Geschichte. Europa ist voll von Nationalitäten, die niemals wieder souverän werden: Serben, Bulgaren, Tschechen, Polen, Finnen, Slovanier2, Griechen u. s. w. Wenn sie einmal den Schein der Unabhängigkeit gewinnen, so ist das nur auf Zeit oder eben nur Schein. Man darf deshalb auch den Zerfall Österreichs in Nationalitäten sich keineswegs als Zerfall in wirklich selbstständige Souveränitäten denken. Es hat nämlich nicht das Nationalitätsprinzip als Prinzip gesiegt, sondern einige Nationen als Mächte haben sich ein gewaltiges Übergewicht verschafft. Wenn man kleinen Nationen „Freiheit“ verspricht, so ist es, damit sie ihren Herrn wechseln. Um der Freiheit der kleinen Nationen an sich rührt keine Macht einen Finger. Die Kleinen haben das Recht, sich beschützen und verteilen zu lassen; das ist alles. […] Es gibt heute nur wenige Stellen auf der Erde, wo weltgeschichtliche Politik gemacht werden kann: London, Petersburg, Berlin, Paris, New York, Rom. Die Zahl dieser Zentralpunkte der Weltgeschichte wird sich schwerlich vermehren, es sei denn, dass einmal das großbritannische Reich große Verluste erleidet. Eher ist es denkbar, dass die Zahl sich noch vermindert. Schon daraus folgt, dass die Weltgeschichte nicht eine Wiederherstellung aller Nationen sein kann. Sie muss fortfahren, Nationen zu zerstören. Es fragt sich nur, welche Nationen sich erhalten können. Der politische Großbetrieb siegt. Der politische Großbetrieb ist im Allgemeinen nach der Art des alten Römerreiches konstruiert: nationaler Kern und überwundene fremde Masse. Das ist die Grundform von Großbritannien, Russland, Frankreich und Deutschland. Unsere nationale Politik bedeutet also: politischer Großbetrieb auf Grund und zu Nutzen des deutschen Volkes. Hans Fenske (Hrsg.), Quellen zum politischen Denken der Deutschen im 19. und 20. Jh., Bd. VII: Unter Wilhelm II. 1890 1918, Darmstadt 1982, S. 178 f. 1. Erläutern Sie die Kriterien, die es laut Naumann für eigenständige Nationen gibt. 2. Zeigen Sie die Gefahren auf, die mit der vorgenommenen Unterscheidung der Nationen ver bunden sind. 3. Die Selbstständigkeit von Völkern ist auch heute noch ein umstrittenes Thema. Wählen Sie ein Volk, das nach Unabhängigkeit strebt oder sie in den letzten Jahren erreicht hat. Stellen Sie in einem Vortrag die Geschichte des Volkes und gegensätzliche Thesen dar, die für oder gegen die Unabhängigkeit sprechen. 5 10 15 20 10 15 20 25 30 35 1 Friedrich Naumann: gründete 1896 den „Nationalsozialen Verein“ mit dem Ziel, alle Reformkräfte einschließlich der Sozialdemokraten zu sammeln, und wird 1907 Reichstagsabgeordneter für die links liberale „Fortschrittliche Volkspartei“. 2 Slovanier: Gemeint sind Slowenen. 5 Nu r z u Pr üf zw ck en Ei ge nt um d C .C .B uc hn er V rla gs | |
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