Volltext anzeigen | |
283Verlauf und Folgen des Ersten Weltkrieges M4 Körperliche und seelische Verheerungen a) Erich Kuttner ist während des Krieges Soldat. Später wird er SPD-Reichstagsabgeordneter und gründet den „Reichsbund der Kriegsbeschädigten“. 1920 schildert er einen Besuch in einer Berliner Spezialklinik für Gesichtsverletzte: Wie viele Berliner ahnen eigentlich, dass es noch ca. 20 Lazarette in Berlin mit über 20 000 Insassen gibt, gefüllt mit Opfern des nun schon seit fast zwei Jahren beendeten Krieges? Und wie viele von denen, die es wissen, haben sich jemals die Frage vorgelegt, wie der Körper eines Menschen aussehen muss, der nach zwei-, nach drei-, nach fünfund sechsjähriger Behandlung noch immer nicht entlassen werden kann, obwohl bei der Entlassung der Kriegsbeschädigten alles andere als zimperlich verfahren wird. Das sind keine Kriegsbeschädigten mehr, das sind die Kriegszermalmten! […] Die Lazarettkommission, die von den Berliner Lazarettinsassen als ihre Vertretung gewählt worden ist, hatte mich zu einem Besuch mehrerer Lazarette eingeladen. […] Die Studienreise begann in dem Versorgungslazarett Thüringer Allee, das in einsamer Verlassenheit weit draußen in Westend liegt. Dort liegen die Menschen, denen der Krieg das edelste und schönste des menschlichen Aussehens genommen hat – so schaurig es sich ausspricht: Menschen ohne Gesicht. Auf die Bitte der Lazarettkommission tritt in das kleine Geschäftszimmer […] ein Mann, der quer über die Mitte des Gesichts eine Binde trägt. Er nimmt sie ab und ich starre in ein kreisförmiges Loch von der Größe eines Handtellers, das von der Nasenwurzel bis zum Unterkiefer reicht. Das rechte Auge ist zerstört, das linke halb geschlossen. Während ich mit dem Mann rede, sehe ich das ganze Innere seiner Mundhöhle offen vor mir liegen: Kehlkopf, Speiseröhre, Luftröhre wie bei einem anatomischen Präparat. […] [Seine Behandlung] wird noch fünf Jahre dauern. Einstweilen hat der Mann seine achtzehnte Operation überstanden. Bald darauf lerne ich Leute mit 30 und 36 Operationen kennen. Man hat die unbequeme Existenz dieser Kriegsopfer vergessen. Im Westend zeigt man mir eine Sammlung von Gipsmasken, die von den Kieferverletzten bei ihrer Einlieferung angefertigt wurden. Das zusammengefl ickte Gesicht wird dann später ebenfalls abgegipst und zum Vergleich aufgehoben. Warum versteckt man diese Denkmäler des Schreckens? b) Im Weltkrieg nehmen seelische Erkrankungen in erschreckendem Maße zu. Die Psychiatrie hat kaum Erfahrung mit schwer traumatisierten Personen. Auszug aus einer Krankenakte: Fall 421. 25-jähriger Offi zier. 1915 Oberarmdurchschuss. Unterstand durch Volltreffer verschüttet (1917). Versucht sich mit seinen Kameraden auszugraben. Letztere verlässt allmählich die Kraft. Sie starben wohl an Erstickung; der Kranke kann nichts darüber angeben. Auch er fühlt zunehmenden Luftmangel. Eine zweite Granate öffnet den verschütteten Unterstand. Dadurch gerettet. Seither nervöse Angstzustände, Schlafl osigkeit, Schreckträume, Erregbarkeit. „Fühlt immer wieder Atemnot, glaubt ersticken zu müssen“, dreimonatige Behandlung bringt keinen Erfolg, daher Verlegung in das Nervenlazarett. Starker, früher stets gesunder, intelligenter, strebsamer Mann. Erster Text: Erich Kuttner, Vergessen! Die Kriegszermalmten in Berliner Lazaretten, in: Vorwärts vom 8. September 1920, zitiert nach: Bernd Ulrich und Benjamin Ziemann (Hrsg.), Frontalltag im Ersten Weltkrieg. Quellen und Dokumente, Essen 2008, Dok. 20 i, S. 92 f. Zweiter Text zitiert nach: ebda., Dok. 21 d, S. 103 1. Informieren Sie sich über die körperlichen und seelischen Folgen von Kriegen nach dem Ersten Weltkrieg bis in unsere heutige Zeit. 2. Erörtern Sie mögliche Antworten auf die Frage am Ende der Schilderung Kuttners. 3. Diskutieren Sie mögliche Folgen für eine Gesellschaft, die solche Kranke integrieren muss. Beziehen Sie das Männerbild der Zeit in Ihre Überlegungen ein. 5 10 15 20 25 30 35 40 45 u Die Schrecken des Krieges. Verwundeter (Herbst 1916, Bapaume). Radierung von Otto Dix, 1924. „Ich habe den Krieg genau studiert, man muss ihn realistisch darstellen, damit er auch verstanden wird.“ So äußerte sich der Künstler Dix rückblickend selbst über sein grafi sches Hauptwerk „Der Krieg“, das 1924 in einem Berliner Verlag veröffentlicht wurde. Der aus 50 Blättern bestehende Zyklus verweist nicht nur auf die grauenhaften Grabenkämpfe, die in den Materialschlachten des Ersten Weltkrieges ausge tragen wurden, sondern mit seinen Bildern demaskiert Dix in abschreckender Weise auch den Moloch Krieg als solchen. p p Informieren Sie sich über Leben und Werk von Otto Dix und erklären Sie, was den Künstler zum „Kriegsberichterstatter“ werden ließ. N r z u P üf zw ke n Ei g nt um de s C .C .B uc hn r V er la gs | |
![]() « | ![]() » |
» Zur Flash-Version des Livebooks |