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285Der Erste Weltkrieg – die Schuld Deutschlands? d) Jörn Leonhard, Jahrgang 1967, ist Professor für Westeuropäische Geschichte an der Universität Freiburg und erläutert in seiner 2014 veröffentlichten „Geschichte des Ersten Weltkriegs“: Entscheidend für die Frage der Verantwortung in der Julikrise ist aber nicht allein die Frage der Eskalation – zu ihr trugen alle Beteiligten bei: in Belgrad, Wien und Berlin genauso wie in St. Petersburg, Paris und London. Von mindestens ebenso großer Bedeutung ist die Frage, wo der Schlüssel zur Deeskalation lag. Gerade hier aber kam Deutschland und auch Großbritannien eine ganz besondere Verantwortung zu: Beide hatten 1912/13 bewiesen, wie eine erfolgreiche Lösung aussehen konnte. Aber mit dem deutschen Blankoscheck für Österreich-Ungarn zu einem frühen Zeitpunkt ging man in Berlin bewusst ein enormes Risiko ein. Man wollte den Konfl ikt zwischen Österreich-Ungarn und Serbien zum Testfall machen – im klaren Bewusstsein dafür, dass sich diese Krise zum Weltkrieg auswachsen konnte. Die deutsche Risikostrategie, es darauf ankommen zu lassen, wie weit Russland gehen würde und ob es zum Krieg letztlich bereit war oder nicht, traf zugleich auf die russisch-französische Bereitschaft die Balkankrise zum Anlass für einen großen Konfl ikt zu machen. Die britische Position schließlich blieb zu lange zu unklar und nährte immer wieder widerstreitende Hoffnungen: auf eine britische Neutralität bei den Regierungen in Berlin und Wien oder eine Intervention in Paris und St. Petersburg. Diese Konstellation schränkte den Spielraum für eine Deeskalation im Gegensatz zu 1912/13 massiv ein. Aber es gab weitere Faktoren, die über die unterschiedlichen Motivlagen der Akteure hinausgingen. e) Annika Mombauer, geboren 1967, lehrt Geschichte an der Open University in Milton Keynes, Großbritannien. Sie fasst ihre Forschungen zum Thema so zusammen: Historiker sprechen […] heute nur noch selten von Kriegsschuld. Es wird auch kaum noch die Verantwortung einer einzigen Regierung hervorgehoben. Stattdessen wissen wir heute, dass in allen Hauptstädten der Großmächte wichtige und zum Teil verhängnisvolle Entscheidungen getroffen wurden. Wir wissen auch, dass vor allem den Militärs überall ein Krieg nicht ungelegen kam und es dem militärischen Denken der Zeit entsprach, einen solchen führen zu wollen. Dennoch muss der Hauptteil der Verantwortung für den Kriegsausbruch nach wie vor in den Entscheidungen Österreich-Ungarns und Deutschlands verortet werden. Die Dokumente, auf die wir uns stützen können, beweisen eindeutig, dass diese beiden Großmächte es auf einen Krieg abgesehen hatten, bevor die Regierungen der anderen Großmächte überhaupt wussten, dass ein europäischer Konfl ikt bevorstand. [...] Der Krieg war kein „Unfall“, er war nicht das Resultat von Fehlern oder Versäumnissen, und die Verantwortlichen von 1914 waren keine „Schlafwandler“ (Christopher Clark), sondern sie wussten im Gegenteil ganz genau, was sie taten. Der Krieg brach aus, weil einfl ussreiche Kreise in Wien und Berlin ihn herbeiführen wollten und ihn absichtlich riskierten und weil man in Paris und Petersburg bereit war, diesen Krieg zu führen, wenn er denn käme. Gewiss, es gab auch in Paris und Petersburg und zu einem viel geringeren Teil sogar in London im Juli 1914 Befürworter des Krieges, vor allem unter den Militärs. Aber die Entscheidung, im Sommer 1914 einen Krieg zu führen, war in Wien und Berlin getroffen worden. Hier übten die kriegslustigen Militärs den größten Einfl uss auf ihre politischen und diplomatischen Kollegen aus. Erster Text zitiert nach: Karl Dietrich Erdmann, Die Zeit der Weltkriege. in: Bruno Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 4, Stuttgart 81959, S. 25 Zweiter Text zitiert nach: Fritz Fischer, Vom Zaun gebrochen – nicht hineingeschlittert. Deutschlands Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs, in: Die Zeit vom 3. September 1965, Nr. 36, S. 30 Dritter Text zitiert nach: Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, übersetzt von Norbert Juraschitz, München 142013, S. 716 f. Vierter Text zitiert nach: Jörn Leonhard, Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 22014, S. 119 f. Fünfter Text zitiert nach: Annika Mombauer, Die Julikrise. Europas Weg in den Ersten Weltkrieg, München 22014, S. 117 119 1. Arbeiten Sie die zentralen Aussagen der Historiker in jeweils einer These heraus. 2. Erklären Sie den Unterschied zwischen „Hauptverantwortung“ und „Schuld“. 3. Vergleichen Sie die Aussagen und erläutern Sie die kontroversen Positionen. 4. Nehmen Sie zu den Aussagen begründet Stellung. Geben Sie auch an, welche Fragen ggf. offen bleiben und worin Schwierigkeiten für die Urteilsbildung liegen. 5. Führen Sie auf der Basis Ihrer Urteile eine Pround Kontra-Debatte durch. [Gehen Sie dabei wie folgt vor: Erarbeitung der Positionen in verschiedenen Kleingruppen; Eröffnung der Fragestellung durch Sprecher/in; wechselseitiges Vortragen von Plädoyers für oder gegen die Ausgangsthese; Diskussion im Plenum; Abstimmung über die Problemfrage; wichtig: Gegenüberstellung der beiden Gruppen bei Sitzordnung.] 95 100 105 110 55 60 65 70 75 80 85 90 Nu zu P rü fzw ck en Ei ge nt um d e C .C .B uc hn r V rla gs | |
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