Volltext anzeigen | |
343 Aufarbeitung von Schuld und Verantwortung Unsere Situation hat sich, im Vergleich zu der vor vierzig Jahren […], gründlich verändert. Damals ging es um die Unterscheidung zwischen der persönlichen Schuld der Täter und der kollektiven Haftung derer, die es – aus wie immer verständ lichen Gründen – unterlassen hatten, etwas zu tun. Diese Unterscheidung trifft nicht mehr das Problem von Nachgeborenen, denen das Unterlassungshandeln ihrer Eltern und Großeltern nicht zur Last gelegt werden kann. Gibt es für diese überhaupt noch ein Problem der Mithaftung? […] Nach wie vor gibt es die einfache Tatsache, dass auch die Nachgeborenen in einer Lebensform aufgewachsen sind, in der das möglich war. Mit jenem Lebenszusammenhang, in dem Auschwitz möglich war, ist unser eigenes Leben […] innerlich verknüpft. Unsere Lebensform ist mit der Lebensform unserer Eltern und Großeltern verbunden durch ein schwer entwirrbares Gefl echt von familialen, ört lichen, politischen, auch intellektuellen Überlieferungen – durch ein geschichtliches Milieu also, das uns erst zu dem gemacht hat, was und wer wir heute sind. Niemand von uns kann sich aus diesem Milieu herausstehlen, weil mit ihm unsere Identität, sowohl als Individuen wie als Deutsche, unaufl öslich verwoben ist. […] Wir müssen also zu unseren Traditionen stehen, wenn wir uns nicht selber verleugnen wollen. […] Aber was folgt aus dieser existenziellen Verknüpfung mit Traditionen und Lebensformen, die durch unaussprechliche Verbrechen vergiftet worden sind? […] Überträgt sich etwas von dieser Haftung auch noch auf die nächste und die übernächste Generation? Aus zwei Gründen, denke ich, sollten wir die Frage bejahen. Da ist zunächst die Verpfl ichtung, dass wir in Deutschland – selbst wenn es niemand sonst mehr auf sich nähme – unverstellt, und nicht nur mit dem Kopf, die Erinnerung an das Leiden der von deutschen Händen Hingemordeten wachhalten müssen. […] Wenn wir uns über dieses Benjamin’sche Vermächtnis1 hinwegsetzten, würden jüdische Mitbürger, würden überhaupt die Söhne, die Töchter und die Enkel der Ermordeten in unserem Lande nicht mehr atmen können. Das hat auch politische Implikationen. Jedenfalls sehe ich nicht, wie sich das Verhältnis der Bundesrepublik beispielsweise zu Israel auf absehbare Zeit „normalisieren“ könnte. […] Nach Auschwitz können wir nationales Selbst bewusstsein allein aus den besseren Traditionen unserer nicht unbesehen, sondern kritisch angeeigneten Geschichte schöpfen. Wir können einen nationalen Lebenszusammenhang, der einmal eine unvergleichliche Versehrung der Substanz menschlicher Zusammengehörigkeit zugelassen hat, einzig im Lichte von solchen Traditionen fortbilden, die einem durch die moralische Katastrophe belehrten, ja argwöhnischen Blick standhalten. Sonst können wir uns selbst nicht achten und von anderen nicht Achtung erwarten. Diese Prämisse hat bisher das offi zielle Selbstverständnis der Bundesrepublik getragen. Der Konsens wird heute von rechts aufgekündigt. Man fürchtet nämlich eine Konsequenz: Eine kritisch sichtende Traditionsaneignung fördert in der Tat nicht das naive Vertrauen in die Sittlichkeit bloß eingewöhnter Verhältnisse; sie verhilft nicht zur Identifi kation mit ungeprüften Vorbildern. Jürgen Habermas, Vom öffentlichen Gebrauch der Historie, in: „Historikerstreit“. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München 1987, S. 246 ff. 1. Erläutern Sie, was Habermas mit einer „kritisch angeeigneten Geschichte“ (Zeile 44) meint. 2. Analysieren Sie, welche „Erkenntnisinteressen“ in der Interpretation des „Dritten Reiches“ Habermas bestimmten Gruppen von Zeitgenossen vorwirft. 3. Nehmen Sie Stellung zur Frage der „Mithaftung der Nachgeborenen“ und des „richtigen Umgangs“ mit der Geschichte des „Dritten Reiches“. Wie wirkt sich dies auf das deutsche Selbst verständnis aus? M4 „Wer darf vergessen werden?“ Der Einweihung des staatlichen Denkmals für die ermordeten Juden Europas („Holocaust-Mahnmal“) im Mai 2005 geht eine über 15 Jahre dauernde Planungsund Vorbereitungsphase voraus, die in Politik und Presse kontrovers diskutiert wird. Der Historiker Reinhart Koselleck (1923 2006) greift 1998 mit einem in der „Zeit“ veröffentlichten Artikel in die Überlegungen des Deutschen Bundestages für einen Konzeptentwurf ein: Die erste Möglichkeit ist [...] ein Denkmal nur für die ermordeten Juden zu schaffen, unter striktem Ausschluss jeder anderen Opfergruppe [...]. Dann müssen wir räumlich, ikonografi sch1, zeitlich und fi nanziell die jüdischen Wünsche einlösen: ein Opfermal. Oder wir errichten ein Mahnmal beziehungsweise ein Schandmal, jedenfalls ein Denkmal, das primär an die Tat und die Täter erinnert, die die Juden erschlagen, erschossen, vergast, beseitigt und in Asche, Luft 1 Der Literaturwissenschaftler Walter Benjamin (1892 1940) war jüdischer Herkunft und nahm sich auf der Flucht vor der Gestapo das Leben. In seinen Aufzeichnungen fand sich die dringende Mahnung, dass die immerwährende Erinnerung an die grausamen Verbrechen der Deutschen die einzig mögliche Sühne wäre. 1 Ikonografi e: Bestimmung, Beschreibung oder Erklärung von Bildinhalten 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 5 32015_1_1_2015_Kap3_260-351.indd 343 01.04.15 11:01 Nu r z u Pr üf zw ec ke n Ei ge nt um d es C .C . B uc hn er V er la gs | |
« | » |
» Zur Flash-Version des Livebooks |