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345 Aufarbeitung von Schuld und Verantwortung M5 „Erinnerungskultur“ statt Geschichtsbewusstsein? Der Historiker Norbert Frei über die moderne Gedenkund Erinnerungskultur: Der „letzte Zeitzeuge“ gilt unserer durchmedialisierten Gegenwart als Indikator dafür, wie nahe uns ein Thema noch ist und noch zu gehen hat. Im Wissen um die Mechanismen schnüren Film und Fernsehen, Magazine und Museen, aber natürlich auch Historiker und politische Bildungseinrichtungen seit Monaten, zum Teil sogar seit Jahren, am Gedenkpaket 1939 – 1949 – 1989. Selbstredend bedürfen dabei die Produktionen zum 70. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen, zum 60. Geburtstag der Bundesrepublik und zur 20. Wiederkehr des Mauerfalls unterschiedlicher Intonation. In einer Hinsicht aber werden sich die meisten ähneln: im Rekurs auf den Zeitzeugen und das durch ihn verkörperte Authentizitätsversprechen. Der Vorstellung, dass es die Stimme des Dabeigewesenen ist, die historisches Verstehen garantiert, ist kaum mehr wirkungsvoll entgegenzutreten in einer Gesellschaft, in der „Erinnerungskultur“ an die Stelle von Geschichtsbewusstsein getreten ist. […] Unter dem Tugendgebot der Erinnerung scheint weiten Teilen der politischen Klasse, freilich nicht allein in der Bundesrepublik, jeder Begriff von Geschichte und von den Vorzügen einer Geschichtsschreibung, die sich unabhängig von politischen Identitätsstiftungsversuchen und Nützlichkeitserwägungen entfaltet, abhanden gekommen zu sein. Wem als Politiker oder als Bürger jedoch daran liegt, dass nicht nur „gedacht und erinnert“, sondern gewusst und verstanden wird, der kann sich nicht auf die Frage beschränken, wie viele seiner Zeitgenossen ein historisch gewordenes Ereignis noch erlebt oder nicht mehr erlebt haben. Und dem muss es am Ende nicht darum gehen, Vergangenheit „lebendig zu halten“ – wohl aber um Chancen, sie sich begreifend anzueignen. Dazu bedarf es nicht der meist wohlmeinenden, aber oft unterkomplexen Didaktisierung im Format des „Ich erinnere mich“, sondern der Begünstigung von Problembewusstsein, Differenzierungsbedürfnis und kritischer Aufklärung. […] Im Unterschied zur Zeitgenossenschaft, die nun ihren Abschluss fi ndet, ist die „Arena der Erinnerungen“ gerade erst eröffnet. Denn das „Zeitalter des Gedenkens“, für dessen Entstehen „Auschwitz“ die erste und entscheidende Ursache war, kommt nicht zu Ende, aber es geht nicht mehr in diesem Ursprung auf. In einer Welt vernetzter Gedächtnisse und globaler Imagologien1 ist der Holocaust zu einer Metapher geworden, die für vieles stehen kann, und Hitler – auch – zur Gruselgröße einer multimedialen Populärkultur. Eine angemessene – und das heißt nicht zuletzt: auf sich verändernde Fragen Auskunft gebende – Vergegenwärtigung der nationalsozialistischen Vergangenheit bleibt auch im 21. Jahrhundert politisch-moralisches Gebot und intellektuelle Herausforderung. Nötig allerdings ist dazu Wissen, nicht nur die Bereitschaft zur Erinnerung. Mit Blick auf eine Gegenwart, die kein persönliches Erinnern an die NS-Zeit mehr kennen wird, sind deshalb neue Anstrengungen gefragt. Das ist im Übrigen nicht allein eine Frage unseres kulturellen Selbstverständnisses, sondern von praktischem Sinn und politischem Nutzen: Denn nur dort, wo aufgeklärtes Geschichtsbewusstsein entsteht, wird der Abbau kollektiver Mythen möglich, die Europa auch sechs Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch beschweren. Norbert Frei, 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen. Erweiterte Taschenbuchausgabe, München 2009, S. 17 f. und 36 f. 1. Fassen Sie zusammen, wie Frei die moderne Gedenk und Erinnerungskultur bewertet. 2. Erläutern Sie, was er damit meint, dass die „Erinnerungskultur an die Stelle von Geschichtsbewusstsein getreten ist“. 3. Entwickeln Sie Vorschläge, wie eine von Frei geforderte „angemessene Vergegenwärtigung der nationalsozialistischen Vergangenheit“ aussehen könnte. 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 1 Imagologie (heute: interkulturelle Hermeneutik): vergleichende Wissenschaft, die sich mit dem „Bild vom anderen Land“ in Bezug auf Sprache, Kultur, Ansichten und Werte beschäftigt 32015_1_1_2015_Kap3_260-351.indd 345 01.04.15 11:01 Nu r z u Pr üf zw ec ke n Ei ge nt m d es C .C . B uc hn er V er la gs | |
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