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381 und Hermann als Integra tionsfi gur. Der auf seinem Denkmal bei Detmold stehende Hermann3 reckte bei seiner Enthüllung 1875 sein Schwert nicht gegen die Römer, sondern gegen Frankreich, das 1870/71 mili tärisch besiegt worden war und als jahrhundertelanger „Erbfeind“ betrachtet wurde. Das Kaiserreich von 1871 galt dabei als Wiederbelebung des mittelalterlichgermanischen Reiches der Deutschen. Nationale Sehnsüchte waren auch ausschlaggebend für den Aufstieg der Kyffhäuser-Sage um Kaiser Friedrich I. Barbarossa zum Nationalmythos. Der Sage nach wartet Barbarossa im Bergrücken Kyffhäuser schlafend auf den richtigen Moment für seine Wiederkehr. Im 19. Jahrhundert verband sich der Rückgriff auf die verklärte Kaiserherrlichkeit der Stauferzeit mit der Sehnsucht nach einem geeinten Deutschen Reich, die 1871 mit der Gründung des Deutschen Kaiserreichs in Erfüllung zu gehen schien. Gründungsoder Orientierungsmythen spielten und spielen nicht nur in Deutschland, sondern in allen Nationalstaaten eine wichtige Rolle (u M4). Was Hermann der Cherusker für die Deutschen ist, sind in Frankreich Vercingetorix, der von Caesar im Jahre 52 v. Chr. besiegte Gallierfürst, oder der Frankenkönig Chlodwig, der als Gründer des fränkischen Großreiches zum Stammvater der Franzosen wurde. Durch Deutungen und Mystifi zierungen gelang dem 14. Juli – dem Tag des Sturms auf die Bastille in Paris – der Aufstieg vom bedeutenden Ereignis der Französischen Revolution zum Nationalfeiertag.4 In den USA ist der Unabhängigkeitskrieg als Gründungsmythos tief im kollektiven Gedächtnis verankert. Politische Mythen sind mehr als eingängig erzählte Geschichten. Sie sind symbolgeladene Vorstellungswelten, die nicht rational argumentieren, sondern durch ihren emotionalen Gehalt wirken und Menschen mobilisieren wollen. Sie interpretieren die Vergangenheit, idealisieren oder verschweigen bestimmte Aspekte. Auf diese Weise können sie politische Ansprüche begründen und nationale Identität stiften. Mythen sind insofern „wirksame Fiktionen“, die Einfl uss auf die Gegenwart haben. Zu den politischen Mythen gehören auch symbolische Handlungen, wie das Singen der Nationalhymne oder Hissen der Nationalfl agge. Sie drücken eine Übereinstimmung, eine „kollektive Identität“, zwischen den Staatsbürgern und ihrem Staat aus. Damit wird deutlich, dass eine nationale Identität auch das Ergebnis einer sozialen Konstruktion ist. o Fußballfans während der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in der Stuttgarter Innenstadt. Foto vom 20. Juni 2006. Die Erfolge der deutschen Mannschaft, gepaart mit herrlichem Sommerwetter, erzeugten in großen Teilen der Bevölkerung Hochstimmung und ein nationales Zusammengehörigkeitsgefühl. Ausland und Medien lobten den gutgelaunten neuen deutschen Patriotismus, der die WM 2006 zum „Sommermärchen“ werden ließ. Lesetipp Herfried Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin 22009 3 Vgl. hierzu die Abbildung auf der Seite 423. 4 Siehe zum „14. Juli“ insbesondere Seite 430 ff. 32015_1_1_2015_Kap3_352-385.indd 381 01.04.15 10:27 Nu r z u Pr üf zw ec ke n Ei ge nt um d es C .C . B uc hn er V er la gs | |
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