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383 2. Erläutern Sie, warum Anderson Wert darauf legt, dass es sich bei der Nation um eine Gemeinschaft und nicht um einen politisch-administrativen Großverband handelt. 3. Nehmen Sie Stellung zu seiner abschließenden Aussage. M3 Nation und Nationalismus Der Historiker Hans-Ulrich Wehler hat Geschichte, Formen und Folgen von Nation und Nationalismus untersucht: Nationalismus soll heißen: das Ideensystem, die Doktrin, das Weltbild, das der Schaffung, Mobilisierung und Integration eines größeren Solidarverbandes (Nation genannt), vor allem aber der Legitimation neuzeitlicher politischer Herrschaft dient. Daher wird der Nationalstaat mit einer möglichst homogenen Nation zum Kardinalproblem des Nationalismus. Nation soll heißen: jene zuerst „gedachte Ordnung“, die unter Rückgriff auf die Traditionen eines ethnischen Herrschaftsverbandes entwickelt und allmählich durch den Nationalismus und seine Anhänger als souveräne Handlungseinheit geschaffen wird. Daher führt die Auffassung, dass die Nation den Nationalismus hervorbringe, in die Irre. Umgekehrt ist vielmehr der Nationalismus der Demiurg1 der neuen Wirklichkeit. […] [Die] ältere Nationalismusforschung teilte bis dahin, wie aus der Vogelperspektive deutlich wird, einige gemeinsame, weithin für verbindlich gehaltene Prämissen. 1. Die Nation galt ihr als eine quasi-natürliche Einheit in der europäischen Geschichte. Sie hatte dieses Entwicklungspotenzial seit der Völkerwanderung, spätestens seit dem Mittelalter aufgebaut, sodass die ersten Nationen – wie das oft in bio logistischen Metaphern ausgedrückt wurde – nach einem organischen Wachstumsprozess zur Blüte kamen und sich voll entfalten konnten. Häufi g gab es auch ein „Dornröschenkuss“-Argument, dem zufolge schlummernde Nationen „geweckt“ wurden oder irgendwie zu neuem Leben „erwachten“. Die Genese dieser Nationen wurde meist als ein divinatorischer2 Schöpfungsakt vorausgesetzt, aber nie präzise untersucht. 2. Die Nation besitze, lautete eine weitere grundlegende Annahme, das Recht auf ihren eigenen Staat. Neue Nationen dürften ihn sich erkämpfen, alte Nationen, die zeitweilig ohne Staat existierten, müssten ihn wiedergewinnen. So haben namentlich auch deutsche Historiker im Hinblick auf den deutschen Nationalstaat sowohl vor als auch nach 1871 argumentiert. 3. Die Nation bringe allmählich, zumal wenn sie ihre staatliche Hülle besitze, die Ideenund Wertsysteme hervor, welche die Existenz der Nation rechtfertigten, ihre Vergangenheit deuteten, ihre Zukunft entwürfen. Diese Ideen wurden als Nationalbewusstsein, Patriotismus, Nationalgefühl bezeichnet. Der Begriff „Nationalismus“ galt überwiegend als ein pejorativer3 Ausdruck, der einen exzessiv übersteigerten, bedauerlich eigensüchtigen Patriotismus meinte. 4. […] Der Nationalismus lässt sich mithin als ein umfassendes „Weltbild“ (Max Weber) verstehen – als eine „gedankliche Vision“ (Pierre Bourdieu), die moderne Welt zu begreifen und einzuteilen. Die von ihm geschaffene Nation ist ein erstaunlicher Konstruktionserfolg, nach dessen vornationalen Grundlagen aber genau zu fragen ist. […] Die konventionelle Auffassung von der Nation – und diese Vorstellung ist im kollektiven historischen Gedächtnis von Angehörigen gegenwärtiger Nationalstaaten tief verankert – insistiert darauf, dass diese Nation seit archaischen Urzeiten bestanden habe. Allenfalls sei sie einmal verdeckt, überfremdet, eingeschläfert worden, bis sie erneut erwachte oder geweckt wurde und damit wieder zum Bewusstsein ihrer selbst kam. […] Das neuere Verständnis von Nationalismus sieht in ihm […] ein durchaus modernes Phänomen, das von der Loyalitätsbindung in älteren Herrschaftsverbänden prinzipiell unterschieden ist. […] Der Nationsbegriff im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit bezieht sich allein auf landsmannschaftliche Vereinigungen von Studenten, Kaufl euten, Handwerkern, auch auf Adelseliten, die ihren Herrschaftsverband zu repräsentieren beanspruchten; er hat aber gar nichts mit der souveränen Handlungseinheit der modernen Nation zu tun. Erst der Nationalismus erhebt die Nation zur obersten „Rechtfertigungsund Sinngebungsinstanz“ (Heinrich August Winkler), die andere Halbgötter: ob Stammeshäuptlinge, Könige oder Päpste, verdrängt; er selber gewinnt den Charakter einer politischen Religion. Der Staat muss auf seiner Legitimierung durch den Willen der Nation beruhen. Anstelle der überlieferten „Staatsräson“ orientiert sich der Nationalstaat primär an „nationalen Inter essen“, nicht selten auch an der „historischen Mission“ seiner Nation. Die nationale Identität erlaubt zwar die Koexistenz mit konfessionellen, regionalen, traditionalen Identitäten, ist aber im Prinzip der höchstrangige Wert. Das nationale Heimatland gilt jetzt als sakrosankt4; ein Tausch (nach einem Erbfolgestreit) oder eine Abtretung von Teilen dieses Landes sind nicht mehr legitimierbar. Alle diese unverkennbaren Eigenarten bilden nicht den Stoff vornationaler Loyalität. Deshalb darf der neu 1 Demiurg: griech. „Handwerker“; bezeichnete in den Lehren der Antike einen Schöpfergott 2 divinatorisch: seherisch, vorahnend 3 pejorativ: sich in seiner Bedeutung negativ verändernd 4 sakrosankt: heilig, unverletzlich, unantastbar 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 32015_1_1_2015_Kap3_352-385.indd 383 01.04.15 10:27 Nu r z u Pr üf zw ec ke n Ei ge nt um d es C .C . B uc hn er V er la gs | |
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