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3993.3 Deutsches Selbstverständnis nach 1945 Ein Land – eine Identität? Seit der „Wiedervereinigung“ nähert sich die politische Kultur in den beiden Teilen Deutschlands allmählich einander an. Obwohl Löhne und Gehälter inzwischen weitgehend angeglichen wurden, fühlte sich ein Teil der Ostdeutschen jedoch durch die radikale politische und wirtschaftliche Umstellung ungerecht behandelt. Orientierungslosigkeit, Rechtsradikalismus und eine nostalgische Verklärung des Sozialismus1 machten sich breit. Ins gesamt sind die Menschen in den neuen Bundesländern mit Demokratie, pluralistischer Gesellschaft und Marktwirtschaft weniger zufrieden als die im Westen. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung steht aber positiv zum wiedervereinigten Deutschland. Die Unterschiede in der Lebenserfahrung und im Lebensgefühl zwischen den Deutschen in Ost und West waren doch größer, als man das in den aufregenden Monaten der friedlichen Revolution erwartet hatte. Dies betrifft auch das kollektive Gedächtnis und traditionelle Werthaltungen. So spielt etwa im Osten die Erinnerung an den Holocaust immer noch eine geringere Rolle als im Westen, während der Antifaschismus noch immer einen großen Platz einnimmt. Trotz aller wirtschaftlichen und sozialen Probleme: Der Stolz auf die friedliche Revolution in der DDR und die daraufhin erfolgte Deutsche Einheit hat wesentlich zu einem gemeinsamen Selbstverständnis und zur „inneren Einheit“ Deutschlands beigetragen. Eine neue Geschichtskultur Mit dem Ende der DDR verschwand auch ihre Geschichtskultur. Die Symbole des ver einigten Deutschland, die Flagge und Hymne, waren jene der Bundesrepublik. Namen der ostdeutschen Straßen, Plätze und Institutionen, die Denkmäler und symbolträchtigen Gebäude verschwanden, während sich Benennungen, die sich an der Geschichtskultur der alten Bundesländer orientieren, allmählich auch im Beitrittsgebiet ver breiten. In der Bundesrepublik war die politische Kultur seit Ende der 1970er-Jahre pluraler geworden. Es gab immer mehr bürgergesellschaftliche Initiativen. Das beeinfl usste auch die westdeutsche Geschichtskultur. Die (Um-)Benennung von Straßen, Plätzen, Institutionen und Kasernen, die Errichtung, Entfernung oder Umwidmung von Gedenkorten verstand man nun nicht mehr als alleinige Angelegenheit des Staates, sondern als Resultat eines Selbstverständigungsprozesses der Gesellschaft. Auch das 2005 fertiggestellte Denkmal für die ermordeten Juden Europas sowie das 2007 vom Bundestag beschlossene Freiheitsund Einheitsdenkmal2 im Zentrum Berlins hatten bürgergesellschaftliche Ursprünge (u M14). Heute gibt es in Deutschland eine Vielzahl von Gedenkstätten, die vom Bund, den Ländern, Kommunen oder von bürgergesellschaftlichen Akteuren errichtet wurden und betrieben werden. i „Daran müssen wir noch arbeiten.“ Karikatur von Rainer Schwalme, 1992. p Erklären Sie die Haltung des Zeichners zur deutschen Einheit. Diskutieren Sie, ob die Aussage der Karikatur auch heute noch Gültigkeit hat. 1 Siehe hierzu das Kapitel „Ostalgie“ auf Seite 436 bis 441. 2 Vgl. dazu den Methoden-Baustein „Denkmäler“ auf Seite 416 bis 418. Lesetipp Dana Giesecke und Harald Welzer, Das Menschenmögliche. Zur Renovierung der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2012 32015_1_1_2015_Kap3_386-419.indd 399 01.04.15 10:31 Nu r z u Pr üf zw ec ke n Ei ge nt m d es C .C . B uc hn er V er la gs | |
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