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155Schreiben: Materialgestützt erörtern Iss was 6. Charakterisieren Sie die Argumentationsweise in dem Zeitschriftenartikel „Ein paar Kilo Mensch“: Wie verhalten sich hier Behauptung, Begründung, Beleg und Beispiel zueinander? Katrin Zeug Ein paar Kilo Mensch Flach geht das Wasser des Sees in die grauen Wolken über. Alles ist ruhig, ein paar Enten dümpeln am Ufer, die Zweige haben ihr Laub verloren und stehen kahl am Kieselweg. Hier dürfen die Mädchen hin, wenn ihr BMI über 15 ist, wenn ihr Körper sie wieder trägt, das Stück runter von der Klinik, die 50 Meter bis zum Wasser. Den Body-Mass-Index (BMI) 15 erreicht man beispielsweise, wenn man bei 1,65 Metern 41 Kilo wiegt. Darunter darf das Bett nicht verlassen werden, weil dem Herz bei Bewegung die Energie zum Schlagen fehlen könnte und die Gefahr besteht, dass Knochen brechen oder das Gehirn sich verkrampft, weil nicht genug Nährstoffe da sind. Erst wenn das Gewicht ein paar Tage hält, dürfen sie runter zum See, die Mädchen von Station 1, Abteilung Essstörungen. Eine halbe Stunde lang, mit Begleitung. In die psychosomatische Abteilung der Argirov-Klinik am Starnberger See kommen Menschen, die sich an die Grenze zum Tod gehungert haben und es allein nicht mehr schaffen, wieder mit dem Essen anzufangen. Bea wog 48 Kilo, als sie in die Klinik gebracht wurde. Sie war kurz zuvor zusammengeklappt und hatte bewusstlos im Klassenzimmer gelegen, bis der Notarzt kam, der für die Blutabnahme nicht mal mehr eine Ader fand, so vertrocknet war sie. Bea, 15, trägt die gelockten Haare locker zusammengebunden, ihren Körper erkennt man nicht unter der Kleidung. Beim Hungern, sagt sie, sei sie endlich einmal mit einer Sache richtig gut gewesen. Konsequenter als alle anderen. Kurz vor Weihnachten letzten Jahres hatte sie noch 65 Kilo gewogen und gedacht, „es müsse was passieren“. Sie begann mit einer Diät, es gab Salat und fettarme Produkte. Als ihr Gewicht nicht mehr weiter sank, verzichtete sie auf warmes Essen. Nahrungsaufnahme wurde für sie gleichbedeutend mit Schwäche. Dann gab es nur noch Obst, 1,5 Liter Wasser und Tee. Verzicht wurde zum Symbol für Stärke. […] Als sie bewusstlos auf dem Boden lag, war ihr längst alles egal. Sie war abgetaucht in eine andere Welt, „weit weg in ein Nichts“, wo sie eine Idealfigur hatte und ohne Essen leben konnte. „Ich war wie weggebeamt“, sagt sie; gefangen von einer Krankheit, die ihr treuester Begleiter geworden war. Morgens auf der Waage war sie da, als schmeichelnde Zahl, tagsüber, als kämpferische Freundin, mit der Bea über Schwächen siegte und die ihr am Abend Ziele vorgab, die sie erreichen konnte: 55 Kilo, 52, dann blieb die Periode aus. Bei 50 Kilo wünschte sie sich, dass nur ein einziges Mal die 49 auf der Waage erscheint. Bea fielen die Haare aus, ihre Nägel hörten auf zu wachsen. Als sie sich in der Schule schon nicht mehr konzentrieren konnte, setzte sie 47 Kilo als Marke. Auf dem Rücken beginnt ein feiner Flaum zu wachsen. Lanugohaare nennt man die Härchen, die sonst nur Föten bekommen, um sich im Mutterleib vor Schall und Druck zu schützen. Bevor Bea ihr Ziel erreicht, findet ihre Mutter, die bis dahin nichts von „der Schublade Essstörungen“ wissen wollte, im Internet eine Liste mit Symptomen und bringt ihre Tochter ins Krankenhaus. Fluter 33 (21.12.2009), S. 29 40 45 50 55 60 65 70 75 5 10 15 20 25 30 35 Nu r z u Pr üf zw ec ke n Ei ge tu m d es C .C . B uc hn er V er la gs | |
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