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183Umgang mit Texten und Medien Spiegelungen 4 Aufgaben: Seite 188 Mit einem Schlag war es Frühling. Auf der abgestorbenen Ulme im Hof sang früh eine Drossel, die Spatzen verschwanden mit ellenlangen Strohhalmen hinter der Dachrinne, und in den Schaufenstern der Papierhandlungen waren rotgelbe Triesel1 und stumpf glänzende Murmeln zu sehen. Vater stand jetzt wieder früher auf, und wir gingen morgens immer in den Tiergarten, wo wir uns auf eine Bank in der Sonne setzten und dösten oder uns Geschichten erzählten, in denen Leute vorkamen, die Arbeit hatten und jeden Tag satt wurden. War die Sonne mal weg, oder es regnete, gingen wir in den Zoo. Wir kamen umsonst rein; Vater war mit dem Mann an der Kasse befreundet. Am häufigsten gingen wir zu den Affen; wir nahmen ihnen meist, wenn niemand hinsah, die Erdnüsse weg; die Affen hatten genug zu essen, sie hatten bestimmt viel mehr als wir. Manche Affen kannten uns schon; ein Gibbon war da, der reichte uns jedesmal alles, was er an Essbarem hatte, durchs Gitter. Nahmen wir es ihm ab, klatschte er über dem Kopf in seine langen Hände, fletschte die Zähne und torkelte wie betrunken im Käfig umher. Wir dachten zuerst, er machte sich über uns lustig; aber allmählich kamen wir dahinter, er verstellte sich nur, er wollte uns der Peinlichkeit des Almosenempfangens entheben. Er sparte richtig für uns. Er hatte eine alte Konservenbüchse, in die tat er alles, was man ihm am Tag zu essen gegeben hatte, hinein. Wenn wir kamen, sah er sich jedesmal erst besorgt um, ob uns auch niemand beobachten könnte; dann griff er in seine Büchse und reichte uns die erste Erdnuss, nachdem er sie sorgfältig am Brustfell saubergerieben hatte, durchs Gitter. Er wartete, bis wir eine Nuss aufgegessen hatten, darauf reichte er uns die nächs te hinaus. Es war mühsam, sich da nach ihm zu richten; aber er hatte wohl seine Gründe für diese umständliche Art, uns die Nüsse zu geben; und wir mochten ihn auch nicht beleidigen, denn er hatte Augen, so alt wie die Welt, und Vater sagte immer: „Wenn das stimmt mit der Seelenwanderung und so, dann wäre es wohl das Beste, als Gibbon wiederzukommen.“ Einmal fanden wir ein Portemonnaie mit zwanzig Pfennigen2 drin. Erst wollten wir uns Brötchen kaufen; aber dann nahmen wir uns zusammen und kauften dem Gibbon ein Viertelpfund Rosinen dafür. Er nahm die Tüte auch an. Er öffnete sie vorsichtig, roch behutsam am Inhalt, und darauf nahm er Rosine um Rosine heraus und legte sie achtsam in seine Konservenbüchse; und als wir am nächsten Tag kamen, reichte er uns das ganze Viertelpfund wieder, Rosine um Rosine, durchs Gitter, und uns blieb nichts weiter übrig, als sie zu essen; denn er war leicht zu verstimmen. Einige Tage später war große Aufregung im Affenhaus. Der Zoodirektor war drin und schnauzte den Oberwärter an, und der Oberwärter schnauzte den Wärter an, und der Wärter schnauzte die Leute, die drum herumstanden, an, Wolfdietrich Schnurre Der Verrat 1 der Triesel: der Kreisel 5 10 15 20 25 30 35 40 • mit den Zähnen fletschen • torkeln • die Almosen • die Seelen wanderung • achtsam • der Pfau • die Büste • der Zenit • schnalzen • ruppig • der Hauer • (sich) rammen • die Seele aushauchen • die Fäuste zusammenkrampfen • Kredit haben • jemandem etwas borgen • sich Geld pumpen • sich räuspern Schlage nach: 2 der Pfennig: kleinstes Geldstück während der D-Mark (und Reichsmark) Nu r z u Pr üf zw ck en E ge nt um d es C. C. B uc hn r V er la gs | |
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