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185Umgang mit Texten und Medien Spiegelungen Der Gibbon hatte seine Arbeit jetzt unterbrochen, er stand freihändig, die Arme ausgebreitet wie zögernde Flügel, auf seinem waagrechten Ast und hatte die flache Nase witternd zum Zenit aufgehoben. Plötzlich stieß er einen schnalzenden Freudenlaut aus, seine Spachtelhände griffen einen höheren Ast, er schwang sich einmal vor, einmal zurück, und dann flog er mit einem riesigen Satz zum Nachbarbaum rüber und von dem zum nächsten Baum hin; Vater und ich rannten aufgeregt mit. Aber auf einmal blieben wir stehen, und ich dachte, das Herz ginge mir kaputt vor Schreck: Wieder flog der Gibbon jetzt durch die Luft, er wollte zu der Baumgruppe im Wildschweingehege hinüber. Aber er hatte sich in der Entfernung verschätzt, mitten im Sprung brach die Brücke seines Schwungs plötzlich ab; es sah aus, als stünde er einen Augenblick verloren und ratlos still in der Luft; dann stürzte er Hals über Kopf ins Wildschweingehege. Ich wollte schreien, aber ich bekam keine Luft; da rannte ich Vater nach und half ihm, aufs Gitter zu steigen. Er wickelte sich oben den Mantel um den Arm, und dann sprang er hinab. Es war höchste Zeit, schon standen drei ruppige Wildschweine um den Gibbon herum; sie grunzten böse, und eins, dem vier mächtige gelbe Hauer aus der Steckdosenschnauze ragten, hatte einen der langen Arme des Gibbon gepackt und zerrte an ihm. Vater hielt sich den Mantelknäuel vor den Bauch und gab dem Wildschwein einen Tritt. Es bekam einen Schreck; es ließ den Gibbon los und sprang quiekend zur Seite. Vorsichtig hob Vater den Gibbon nun auf und zog sich im Zeitlupentempo mit ihm zum Gitter zurück. Ich war raufgeklettert und nahm ihm den Leblosen ab; er war wie tot; ich wunderte mich, wie leicht er sich anhob. Jetzt hatte sich das Wildschwein wieder gefasst, es gurgelte eine Beschimpfung und raste mit gesenktem Schädel auf Vater zu. Der duckte sich und sprang zur Seite, und der Kopf des Wildschweins krachte gegen das Gitter. Es war sehr benommen darauf, und die Pause, die es zum Nachdenken brauchte, benutzte Vater, um wieder rüberzukommen. Nun rannten alle Wildschweine ans Gitter und hoben die Rüssel und beschimpften uns grunzend und sahen uns heimtückisch an. „Tut mir leid“, sagte Vater zu dem, das sich den Kopf gerammt hatte, „war leider nicht anders zu machen.“ Dann packten wir den Gibbon in Vaters Mantel ein und schlichen auf Umwegen zu dem Loch in der Mauer; wir wollten nicht gern gesehen werden, denn der Zooarzt war Veterinär, „und Pferdedoktoren“, sagte Vater, „die verstehen sich nun mal auf Affenseelen nicht gut.“ Doch es sah beinah so aus, als hätte der Gibbon seine schon ausgehaucht. Als Vater ihn zu Hause aufs Bett legte, war nicht mal sein Atem zu spüren. Vater horchte ihn ab. 85 90 95 100 105 110 115 120 125 Nu r z u Pr üf zw ck en Ei ge nt um d es C .C . B uc hn er V er la gs | |
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