Volltext anzeigen | |
189Umgang mit Texten und Medien: Biografie und Schreiben Spiegelungen Biografie und Schreiben Roger Manderscheid Gymnasium Der Text ist ein Auszug aus dem Roman „Der Papagei auf dem Kastanienbaum“ des luxemburgischen Autors Roger Manderscheid (1933–2010). Die Geschichte schildert die Nachkriegszeit in Luxemburg aus der Perspektive des jugendlichen Christian Knapp. Im Klassenzimmer herrschte eine Atmosphäre zum Schneiden. Vor allem im Winter. Was ebenfalls an dem Ofen lag. Der Ofen stand vorne neben der Tafel. Es war ein hoher, runder Ofen, in dem man Holz und Kohlen verbrennen konnte. Wenn der Geschichtsprofessor Petit morgens in der ersten Stunde auf der Septima B war, taute er zunächst einmal eine ganze Weile sein gläsernes Auge auf. Er hielt sein Taschentuch gegen den Ofen und tupfte damit auf sein rechtes Auge, während er den Schülern von den römischen Kaisern erzählte. Auch die Lampen, die von der Decke hingen, dicke, runde Kugeln, produzierten ein derart schweres, honigfarbenes Licht, dass Christian das Gefühl hatte, dieses Licht da hätte ein Bauer in einen Sack stecken und auf den Feldern aussäen können. Und dann der Geruch des Holzes. Der Bänke und des Fußbodens. Nach Harz und nach Tannenrinden. Wenn der Fußboden frisch geölt worden war, war er beinahe schwarz. Dieser Geruch blieb einem im Halse stecken, so sehr kratzte er. Wenn es zudem draußen regnete und die Tropfen vom Wind gegen die Fenster gejagt wurden, wurde es mit einem Mal, sofern nicht gerade eine Klassenarbeit auf dem Programm stand, richtig gemütlich in dem großen Raum. Christian riss Augen und Ohren auf, um nicht in aller Ruhe einzudösen, saß steif in seiner Bank, auch drei Monate nach Schulbeginn immer noch fest davon überzeugt, nach den Weihnachtsferien zuhause bleiben zu müssen. Eine Ungenügende im Rechnen stand jetzt schon fest. Latein war gar nicht so kompliziert, wie er befürchtet hatte. Im Französischen begann der Unterricht wieder von vorne. Das alles beherrschte er bereits. Geschichte langweilte ihn. All diese Geschichtchen über all diese Völkchen, die längst untergegangen und in der Erde verscharrt waren. Wo sind eigentlich die Milliarden und Milliarden von Toten, die es bisher auf der Welt gegeben hat? Wo liegen ihre Knochen? Wie lange dauert es noch, bis dieser Knochenberg so hoch ist, dass sein Gipfel an die Wolken reicht? Auf solche Wege gerieten seine Gedanken, wenn Petit von den Kriegen von Cäsar und anderen Kaisern erzählte und schwärmte. Was lag Christian an den Germanen, den Ostgoten, den Franken, den Wikingern, den Normannen, den Belgiern und den Aquitanern? Das einzig Interessante an Hannibals Schlachten waren die Elefanten und ihr berühmter Marsch über die Alpen. Darunter konnte er sich wenigstens etwas vorstellen. Was vorbei ist, ist vorbei. Ist tot. Rührt sich nicht mehr. Soll man vergessen. Mich interessiert, was jetzt ist, jetzt geschieht, und das, was in Zukunft sein 5 10 15 20 25 30 Nu r z P rü fzw ec k n Ei ge n um d es C .C . B uc hn er V er la gs | |
![]() « | ![]() » |
» Zur Flash-Version des Livebooks |