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257Mit Material arbeiten 1. Arbeite die Gründe und Motive für das jugendliche Verhalten heraus (M 1). Diskutiert, ob die genannten Gründe und Motive auch auf die Jugendlichen in der DDR zutrafen. 2. Vergleiche die Haltung von Politikern in Ost und West gegenüber „Gammlern“ (M 1). 3. Beurteile das Vorgehen der Polizei (M 2). 4. Verfasse einen Antwortbrief des RIAS an den Jugendlichen (M 3). 5 10 15 20 25 M 1 „Der schädliche Einfl uss …“ In Ost und West sorgen in den 1960er-Jahren „Gammler“ für Aufregung. Sie tragen lange Haare und Jeans, hören Beatmusik und lehnen bürgerliche Lebensformen offen ab. Auch die Politiker reagieren darauf. In der DDR sagt Erich Honecker im Dezember 1965 vor der Parteispitze: Der schädliche Einfl uss solcher Musik auf das Denken und Handeln von Jugendlichen wurde grob unterschätzt. Niemand in unserem Staate hat etwas gegen eine gepfl egte Beat-Musik. Sie kann jedoch nicht als die alleinige und hauptsächlichste Form der Tanzmusik betrachtet werden. Entschieden und systematisch müssen ihre dekadenten* Züge bekämpft werden, die im Westen in letzter Zeit die Oberhand gewannen und auch bei uns Einfl uss fanden. Daraus entstand eine hektische, aufpeitschende Musik, die die moralische Zersetzung der Jugend begünstigt. In der Bundesrepublik erklärt Bundeskanzler Ludwig Erhard 1966: „Solange ich regiere, werde ich alles tun, um dieses Unwesen [der Gammler] zu zerstören.“ In der Gewerkschaftszeitung „Metall“ heißt es daraufhin: Hat dieser Unwille etwas mit den Beatles, den langen Haaren oder der Beatmusik zu tun? Oder hängt dieser Unmut mit anderen Vorgängen zusammen? Die Langeweile einer gleichgeformten Gesellschaft, die Drohung der Atombombe, der Kalte Krieg, die unveränderten sozialen Ungerechtigkeiten und die Unwahrhaftigkeit der Politik lassen eine Niedergeschlagenheit entstehen, in der viele junge Menschen sich fragen, ob gewisse starre Vorstellungen des stereotypen faschistischen Denkens eigentlich wirklich von einer neuen Freiheit abgelöst wurden. […] Wir vergessen zumeist, dass die heutige Gammler Kinder der Geburtsjahrgänge 1946 bis 1950 sind. Hatten die Erwachsenen damals wirklich Zeit für sie, als sie klein waren und Zuwendung gebraucht hätten? Oder sind nicht viele Eltern in diesen Jahren gerannt, um am Wirtschaftswunder teilzuhaben? Erster Text zit. nach: Matthias Judt (Hrsg.), DDR-Geschichte in Dokumenten, Berlin 1997, S. 338. Zweiter Text zit. nach: Christoph Kleßmann, Zwei Staaten, eine Nation. Deutsche Geschichte 1955-1970, Göttingen 21997, S. 545 f. *dekadent: im Verfall begriffen M 2 Beim Polizeifriseur Ein Mitarbeiter der Volkspolizei von Glauchau (Sachsen) berichtet am 20. Juni 1967 dem Staatssicherheitsdienst: Am 19. 06. 1967, gegen 16:00 Uhr, erschien auf Vorladung des Leiters der Jugendliche [...] sowie der Jugendliche [...]. Ich erhielt die Weisung, bei Eintreffen beider Jugendlichen diesen zu eröffnen, dass sie in der Dienststelle die Haare geschnitten bekommen. Es wurde ihnen nochmals eingehend zu verstehen gegeben, dass es sich für einen Jugendlichen unseres Staates gehöre, mit einem anständigen Haarschnitt aufzutreten. Die wiederholten Ermahnungen blieben erfolglos, und sie lehnten konsequent ab, sich die Haare schneiden zu lassen. […] Der Jugendliche […] weigerte sich, auf dem Stuhl Platz zu nehmen, und musste unter Anwendung von körperlicher Gewalt auf den Stuhl gesetzt werden. Bei dieser Handlung leistete er energisch Widerstand, sodass mehrere Genossen notwendig waren, ihn auf dem Stuhl zu halten. Zu bemerken ist jedoch, dass sich sein Widerstand nicht gegen die Volkspolizisten richtete, sondern lediglich darauf gerichtet war, das Schneiden der Haare zu verhindern. [...] Beiden Jugendlichen wurden die Haare unter Beachtung der jetzt verbreiteten Mode geschnitten. Zit. nach: Paul Kaiser, Heckenscheren gegen Feindfrisuren, in: Michael Rauhut/ Thomas Kochan (Hrsg.), Bye bye, Lübben City. Bluesfreaks, Tramps und Hippies in der DDR, erw. Neuausgabe, Berlin 2009, S. 329 M 3 „Was ich noch bemerken wollte …“ 1984/85 schreibt ein Jugendlicher aus der DDR an den RIAS*: Zu meiner Person möchte ich bemerken, dass ich mit Sicherheit nicht zu den bewussten DDR-Bürgern oder gar Hurra-Schreiern gehöre. Das heißt aber noch lange nicht, dass ich bedingungslos alles gut fi nde, was bei Euch passiert. […] [Ich fi nde,] dass wir Jugendliche hier (gezwungenermaßen) ein biss chen mehr dazu angeregt werden, über das nachzudenken, was so in der Welt passiert. Das liegt vielleicht auch daran, dass wir hier nicht so mit allem überschüttet werden und vor allem nicht mit materiellen Dingen. Sicher haben wir genauso Fußball row dys, Punker oder Alkoholkranke, aber ich fi nde es zum Beispiel nicht unbedingt lebensnotwendig, dass in einer Familie 2 Autos existieren, oder dass ich alle Schallplatten auf Anhieb zu kaufen kriege. Selbstverständlich ärgere ich mich mächtig, wenn ich einem bestimmten Artikel ewig hinterherlaufen muss, das ist doch für mich kein Anlass, dass ich unbedingt hier raus will! Zit. nach: Christoph Kleßmann/Georg Wagner (Hrsg.), Das gespaltene Land. Leben in Deutschland 1945-1990. Texte und Dokumente zur Sozialgeschichte, München 1993, S. 474 f. *RIAS: Rundfunk im amerikanischen Sektor (in West-Berlin) 5 10 15 20 5 10 15 ˘ Lesetipp: Claudia Rusch, Meine freie deutsche Jugend, Frankfurt a. M. 52005 4493_1_1_2014_232_271_kap5.indd 257 07.04.14 13:18 Nu r z u Pr üf zw e ke n Ei ge nt um d es C .C . B uc ne r V rla gs | |
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