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Der Mensch hat sich nicht selbst gemacht 185 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 schließt damit immer das Erleben eines höheren Seins, höherer Mächte ein – von denen ich als Religionspsychologe natürlich nicht behaupten kann, dass sie wirklich existieren; aber ich kann untersuchen, wie solche Glaubenserfahrungen das Denken, Fühlen und Handeln der Menschen beeinflussen. • Wie denn? Eigentlich ist es durchaus gesund, wenn ein Mensch über ein stabiles Selbstwertgefühl verfügt, wenn er überzeugt ist, vieles zu können und zu beherrschen. Aber zum Leben gehört es eben auch, Grenzen zu akzeptieren: Mitmenschen, Krankheiten, Leid und Tod. Daher kann die Idee, ein kleines Rädchen in einem sinnvollen „überirdischen“ Getriebe zu sein, das Ich entlasten. Es wird bescheidener, ruhiger; in religiösen Worten: demütiger. Ich nenne das „Ego-Deflation“ im Gegensatz zur „EgoInflation“ unserer Zeit, in der viele Menschen unter Druck stehen, sich selbst wie eine Statue zu modellieren, immer noch toller, schöner, reicher zu werden – und bald unter diesen Anforderungen leiden. • Könnten Sie bitte die positive Wirkung, die von Religion ausgehen kann, genauer beschreiben? Gern. Unsere wissenschaftlichen Befragungen konnten zwei Zusammenhänge aufzeigen. Erstens: Gesund sind Menschen, die ein Kohärenzgefühl haben. Das heißt: Sie können ihr Dasein in dieser Welt verstehen, handhaben und mit Bedeutung aufladen. Eben das gilt für viele Gläubige. Das Risiko, an Depression zu erkranken, ist bei religiösen Menschen etwas geringer. Zweitens: Manche Menschen schaffen es besser als andere, leidvolle Lebenssituation anzunehmen – etwa eine Erkrankung oder den Verlust eines Angehörigen. Auch die Frage, was nach dem eigenen Tod geschehen wird, betrifft ein Leid; wenn auch nur ein vorgestelltes. Wichtig ist dabei die subjektive Bewertung der Krise. Die allerdings je nach religiöser Vorstellung sehr unterschiedlich ausfallen kann: Wenn Sie glauben, Sie sind in einer von Gott gelenkten Welt mit ewigem Leben, dann wirkt das tröstend auf Ihre Psyche. Ebenso aber auch in der Umkehrung: Wenn Sie sich als Sünder sehen, tief verstrickt in den Kampf um Erlösung, dann wird es Ihnen womöglich schlechter gehen. Man darf nicht vergessen, dass Religiosität oft auch eine Quelle des Leidens ist. Religiös begründete Schuldgefühle etwa sind für manche Menschen eine enorme Belastung. • Woher kommt diese Ambivalenz, dass Religion so wohl positive als auch negative Wirkungen hat? Der Glaube ist kein Willensprozess, sondern tief im Inneren des Ich verankert. Der wichtigste Faktor für seine Entstehung ist die religiöse Sozialisation – in unserer Kultur vor allem durch die Eltern. • Der Religionskritiker Sigmund Freud sah Gott als vergrößerte Vaterfigur; als erbarmungslosen Richter, der den Gläubigen in kindlichen Ängsten fesselt. Ich teile diese simple Sicht nicht. Aber es stimmt: Die Beziehungserfahrungen der Kindheit prägen maßgeblich die späteren spirituellen Bilder und Bedürfnisse. Bei manchen Menschen spiegelt die Beziehung zum Übersinnlichen das, was sie früher erfahren haben. Also etwa: Ich fühle mich geliebt und aufgehoben – ebenso baut mein Verhältnis zu Gott auf Vertrauen auf. Oder: Ich bin miss trauisch, empfinde meine Eltern als strafende Instanz – und ebenso Gott als strafend. Der Glaubensstil eines Menschen kann aber auch schlechte Erfahrungen, die er als Kind gemacht hat, kompensieren. Wenn Sie immer nur verprügelt wurden und dann hören, dass Jesus jeden liebt, egal woher er kommt, wird diese Botschaft vielleicht ihr Leben verändern. nach Sebastian Murken, S. 56f Ergänze die Liste mit weiteren Erfahrungen, die auf die menschliche Grunderfahrung der Daseins kontingenz zurückgehen. ➜ M1 Arbeite die Liste der allgemeinen kontingenten Lebensumstände ab: Konkretisiere alle genann ten Punkte, indem du diese auf sich selbst beziehst. ➜ M1 Bestimme den Unterschied zwischen Ego-Deflation und Ego-Inflation und suche passende Synonyme für diese beiden Begriffe. ➜ M2 Schreibe einen Essay zu dem Thema Warum NichtGläubige genauso (un)glücklich sein können wie Gläubige. ➜ M1, M2 Glossar: Identität, Jesus von Nazareth, Kohärenz, Leibniz, Sozialisation, spirituell, Theodizee, transzendent 3 3 5 2 A u fg a b e n N u r zu P rü fz w e c k e n E ig e n tu m d e s C .C . B u c h n e r V e rl a g s | |
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