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141 1 Eine Antwort auf Treitschke 1879 rechtfertigt der deutsche Historiker Heinrich von Treitschke den Antisemitismus öffentlich. Der jüdische Historiker Heinrich Graetz antwortet ihm im selben Jahr: Der Genius* des deutschen Volkes möge Ihnen verzeihen, dass Sie das un überlegte Wort ausgesprochen haben: Die Juden seien ein Unglück für das deutsche Volk. Sie stellen damit diesem Volke ein wenig schmeichelhaftes Zeug nis aus, das dieses in seiner Kernhaftigkeit mit Unwillen zurückweisen wird. Wie? 40 Millionen Deutsche sollen in Gefahr sein, von einer Handvoll Juden korrumpiert** und entsittlicht zu werden? Es ist ein Schimpf, den Sie ihnen antun, wie Sie überhaupt dieses Heldenvolk beleidigen, indem Sie ihm volles Nationalgefühl absprechen. […] Glücklicherweise stehen die Sachen anders. Die Bewegung gegen die Juden ist keineswegs tief und groß. Zählen oder wägen Sie die judenfeindlichen Stimmen, denen Sie sich zugesellen – auch ohne Vergleich mit den judenfreundlichen – und Sie müssen finden, dass sie ebenso vereinzelt wie wenig bedeutend sind. Walter Boehlich (Hrsg.), Der Berliner Antisemitismusstreit, Frankfurt a. M. 1988, S. 26 * Genius: schöpferisch begabter Geist ** korrumpieren: bestechen 5 10 15 20 20 25 30 35 40 45 50 55 60 2 Zwei Erinnerungen Der 1875 geborene Sammy G. erinnert sich: Dr. Rohrmann – er trug seinen Namen mit Recht, denn er machte von dem spanischen Rohr noch dreizehn-, vierzehnjährigen Knaben gegenüber reichlich Gebrauch – war unversehens Zeuge einer gemeinen antisemitischen Beschimpfung eines Mitschülers gegen mich geworden. Wohl oder übel muss te er einschreiten und hielt dem Schuldigen […] eine Strafrede etwa folgenden Inhalts: Schämst du dich gar nicht, deinem Mitschüler sein Judentum vorzuwerfen? Würdest du einem Buckligen seinen Buckel oder einem Blinden seine Blindheit zum Vorwurf machen? Wenn je5 10 15 1. Arbeite mithilfe der Materialien M 1 bis M 3 Aspekte des jüdischen Lebens im Deutschen Kaiserreich heraus. Vergleiche die Aussagen der Quellen mit dem Lehrbuchtext auf Seite 140. 2. War Lehrer Dr. Rohrmann ein „Antisemit“? Belege dein Urteil mit Textstellen aus M 2. 3. Viele Juden ließen sich taufen und gingen Mischehen ein. Welche Gründe könnte es dafür gegeben haben? 3 „Deutschland den Deutschen.“ Postkarte, vor 1900. Ein Mann in vorzeitlichem Gewand mit erhobenem Schwert, eine Gruppe fliehender Menschen, ganz links ein Adler, im Hintergrund das Hermanns denkmal und eine Stadt, rechts ein Wegweiser. Deute diese Bildelemente. Beachte die Kartenaufschrift. chen, öfter Besuch zum Abendessen, was wir Kinder „Gesellschaften“ nannten, jeden Sonntag ein Ausflug, in manchem Sommer eine große Reise, sonst mehrere Wochen an der Ostsee, die Kinder im Gymnasium, […] alles in allem: ein gepflegtes Leben, ein Gefühl der Sicherheit, das später, viel später, einem Gefühl völliger Unsicherheit weichen sollte. Wie leicht zu verstehen, fühlten sich die meisten Juden als Deutsche […]. Monika Richarz (Hrsg.), Jüdisches Leben in Deutschland, Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte im Kaiserreich, Bd. 2, Stuttgart 1979, S. 365 ff. und 393 mand als Jude geboren ist, ist das genau ein solches Unglück, wie verkrüppelt auf die Welt zu kommen, und es ist eine Rohheit, deswegen den armen Menschen zu beschimpfen. – Ich muss rückschauend sagen, dass im Grunde genommen die meisten Juden in Deutschland, oder wie sie sich lieber nennen ließen, die Israeliten, diese Anschauung teilten und sich über eine solche tolerante Gesinnung gefreut hätten. Man wünschte und verlangte ja nichts als „Toleranz“ und begriff nicht, dass diese Toleranz im Allgemeinen nichts Anderes war als der Antisemitismus oder die Verachtung von Seiten solcher Leute, denen entweder ihre Erziehung oder ihr Interesse es verbot, sich anders als gesittet und anständig zu benehmen. Der 1891 geborene Walter E. schreibt: Den Juden ging es gut im damaligen Deutschland. Sie gehörten den höheren Schichten der Bevölkerung an. In Königsberg sah ich viele jüdische Kaufleute. Ärzte, Anwälte, außerdem noch einige Redakteure und Künstler. Unter der großen Arbeiterschaft gab es, so viel ich weiß, keine Juden, unter den Handwerkern vereinzelte. Einige Juden waren reich, viele wohlhabend, fast alle führten ein gutbürgerliches Leben. Ich brauchte nur an meine Eltern, die keineswegs reich waren, und an unsere Verwandten und Bekannten zu denken. Große Wohnungen, zwei Dienstmäd 4743_129_144_q7.qxd 12.08.2016 8:06 Uhr Seite 141 Nu r z u Pr üf zw ec k n Ei ge nt um d es C .C .B uc h r V er la gs | |
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