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M2 Die Ratio bei den Griechen Der Historiker Christian Meier beschreibt 2005 die Rolle der Ratio bei den Griechen: Max Weber1 hat in seiner Religionssoziologie darauf hingewiesen, daß Ratio und Rationalisierungsprozesse in allen Zivilisationen vorkommen. Ratio gehört zum Menschen und pfl egt sich irgendwie zu entwickeln. Aber die Rationalisierungsprozesse gehen in verschiedene Richtungen, haben verschiedene Ansatzpunkte und Reichweiten […] und sind unterschiedlich radikal. Bei den Griechen betreffen sie früh, schon in archaischer Zeit, die gesamte Ordnung und die Grundlagen der Ordnung des Gemeinwesens, und zusätzlich dazu der Welt. Allem griechischen Denken ist die Polis, die – freie, männliche – Bürgerschaft und das Privateigentum, in aller Regel auch am Land, vorgegeben. Alles andere aber ist disponibel2. Da auch die Eine rechte Ordnung Solons nur über Veränderungen zu erreichen war, waren alle Vorgaben von vornherein infrage gestellt und zwar coram publico3, also in besonders hohem Maße der Ratio anheimgegeben. Da die Bürger für diese Ordnung gewonnen werden mußten, mußte sie ihnen rational vermittelt werden – fern allen geheimen Wissens und allen Spezialistenwissens (welches in gewissen Zirkeln natürlich trotzdem grassierte). „Wenn man mit Verstand (xyn noi) reden will, muß man sich stark machen mit dem allen Gemeinsamen (xynoi) wie eine Stadt mit dem Gesetz und noch viel stärker“, hat Heraklit festgestellt. Das griechische Begreifen von Ordnung wird kaum behindert durch Internalisierung von Adelsüberlegenheit, kaum durch religiöse Vorgaben. Im Gegenteil: Ein wesentlicher Teil der Religion wird Sache rationaler Durchdringung. In die – ihrerseits eher irrationale – Götterwelt wird der Glaube installiert, daß der Wettergott Zeus für die Gerechtigkeit zuständig ist – und was Gerechtigkeit ist, wird zur Frage politischer Theologie und politischer Philosophie in einem: also Sache rationaler Durchdringung. […] Wie in Polis und Kosmos werden objektive Maße auch in der Architektur gesucht: die einzelnen Bauglieder sollen sich in bestimmten Maßen zueinander verhalten. Das sollte künftig den Tempelbau bestimmen – nicht Gesichtspunkte wie die von Kolossalität und Pracht, wie sie für die Tyrannen zeitweilig leitend gewesen waren. Maße, Gesetze und Gesetzmäßigkeiten – dies alles bildete gleichsam das Korrelat der Freiheit. Objektiv gegebene Verhältnisse – darauf konnte man am ehesten die freien Griechen einschwören, welche die subjektive Macht so schlecht ertragen konnten. Später erwuchs daraus der Glaube an die Möglichkeit der Herrschaft der Gesetze. Freilich war es trotzdem zumindest an verschiedenen besonders bewegten Plätzen schwierig, die freien Adligen zu domestizieren. Allzu leicht übten sie gegen die Angehörigen der Mittelund Unterschichten Macht und Willkür aus, zum Teil wurden diese auch von ihren Faktionskämpfen4, von Rache und Widerrache in Mitleidenschaft gezogen. Dagegen gab es nur ein Mittel: Die Angehörigen der breiteren Schichten mußten gestärkt werden. Das aber setzte voraus, daß sie ihrerseits in der Öffentlichkeit – möglichst in der Volksversammlung oder in Ausschüssen, neu zu schaffenden Ratskollegien – sich zur Geltung bringen konnten, und zwar regelmäßig. Man lernte, daß die Notleidenden sich nicht einfach unterdrücken ließen. Das wäre allenfalls durch eine stärkere Formierung von Herrschaft möglich gewesen, was man gerade nicht wollte. Andererseits ging es auch nicht an, es von Gelegenheit zu Gelegenheit neu mit ihren heftigen Klagen und Empörungen aufzunehmen. Also mußte man versuchen, ihnen institutionelle Möglichkeiten zu geben, sich Gehör zu verschaffen. Das Funktionieren solcher Institutionen aber setzte die Entstehung eines Bewußtseins bürgerlicher Verantwortung voraus. Seit Solon sehen wir die politischen Denker Verantwortung anmahnen. Daß wirklich die Bereitschaft entstand, sie zu üben, wurde dadurch erleichtert, daß die städtische Öffentlichkeit als Domäne des Adels etwas sehr Anziehendes hatte. Da legte es sich nahe, eine gewisse Abkömmlichkeit vorausgesetzt, die eigene Wirtschaft etwas zu vernachlässigen, um dafür in der Öffentlichkeit etwas zu sein. So kam es zu den Vorformen der Demokratie, zur bürgerlichen Verantwortung, zur bürgerlichen Gleichheit, einer politischen Gleichheit, und damit zur Entdeckung des Bürgers. Damit sind die Griechen endgültig über Israel und die Phönizier weit hinausgelangt. Christian Meier, Die griechisch-römische Tradition, in: Hans Joas und Klaus Wiegandt (Hrsg.), Die kulturellen Werte Europas, Frankfurt am Main 22005, S. 93 116, hier S. 104 107 1. Erläutern Sie die Rolle der Ratio bei den Griechen, wie sie Meier beschreibt. 2. Analysieren Sie den Zusammenhang von Ratio und Demokratie. 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 1 Max Weber (1864 1920): bedeutender deutscher Soziologe, Jurist und Nationalökonom 2 disponibel: verfügbar 3 coram publico: in aller Öffentlichkeit 4 Faktion: von lat. factum „Tat“, „Handlung“; eine besonders aktive oder radikale Gruppe innerhalb einer Partei (nicht zu verwechseln mit Fraktion), deren Auffassungen und Ziele nicht mit denen der Partei übereinstimmen 17Antike Grundlagen europäischen Denkens im Überblick Nu z P rü fzw ec ke n Ei ge nt um d s C .C .B uc hn r V rla gs | |
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