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M4 Die Reichsverfassung in neuer Perspektive Der Historiker Johannes Burkhardt beurteilt die Verfassung des Reiches zwischen 1648 und 1803: Die am meisten verkannte Leistung des Westfälischen Friedens ist seine verfassungsgeschichtliche. Generationen von preußisch-nationalen Historikern haben Schülern, Studierenden und der deutschen Öffentlichkeit eingeredet, dass der Westfälische Friede der Anfang vom Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation gewesen sei. [...] Entgegen der Mär von einem Reich auf Abruf war die deutsche Verfassung zwischen 1648 und 1803 verglichen mit allen nachfolgenden Verfassungen und politischen Systemen die bislang dauerhafteste der deutschen Geschichte überhaupt. Wenn hier von einer Verfassung die Rede ist, ist das ganz wörtlich und im modernen Sinne zu nehmen. Das Reich bekam eine in aller Form beschlossene und geschriebene Verfassung: den Westfälischen Frieden selbst. Bereits die Friedensverhandlungen waren nicht nur ein europäischer Gesandtenkongress, sondern wurden praktisch zugleich zur Reichsversammlung. Denn nachdem die Kurfürsten, Fürsten und Reichsstädte lange genug vergeblich um ihre Zulassung als Verhandlungspartner gestritten hatten, versammelten sie oder ihre Gesandten sich einfach selbst in Osnabrück, in Münster und in Lengerich auf halbem Wege zwischen den Tagungsstätten, berieten in reichstagsähnlichen Geschäftsformen über den Inhalt des Vertragswerks mit und fanden damit bei Kaiser und vertragsschließenden Parteien auch Akzeptanz. Im Osnabrücker Vertrag wurde denn auch dem nächsten Reichstag auferlegt, die Verhandlungsergebnisse als „perpetua lex et imperii sanctio“ zu bestätigen. Das tat er auch, rückte den Westfälischen Frieden Wort für Wort in den Reichsabschied1 von 1654 ein und verlieh ihm damit mit ersten Ergänzungen und Ausführungsbestimmungen Gesetzescharakter. Aus der lateinischen Klausel des Friedensvertrags wurde nun im deutschen Reichsstil „ein gegebenes Fundamental-Gesetz des Heiligen Reiches“. Das nahm schon fast wörtlich unseren Verfassungsbegriff „Grundgesetz“ vorweg [...]. Mit dem Westfälischen Frieden bekamen und gaben sich die Deutschen früher als alle anderen in Europa ihre erste geschriebene Verfassung. Das gilt nicht nur formal, sondern auch inhaltlich. Der mit Schweden geschlossene Vertrag betrifft zum ganz überwiegenden Teil intern deutsche Verhältnisse. Der berühmte Artikel VIII2 ist der zentrale Verfassungsartikel, der grundsätzliche Aussagen zu den Rechten der Gewalten im Reich – hier der Fürsten als Landesherren und als Reichsstände – und zur Organisation der Reichsinstitutionen – Reichstag, Reichskreise und Reichsgerichtsbarkeit – macht. Das sind typische Verfassungsfragen bis heute. [...] Im Reich muss seit 1648 ein paralleler Staatsausbau auf zwei Verfassungsebenen in Rechnung gestellt werden: auf der territorialen wie der gesamtstaatlichen Ebene. Es ist eine irrige Vorstellung, dass der Ausbau des Fürstenstaates gleichsam nur auf Kosten des Reiches möglich gewesen wäre oder umgekehrt. Es ging nicht um Machtverteilung, sondern um Arbeitsteilung und Kooperation zur Bewältigung der zunehmenden staatlichen Aufgaben. Auf der regionalen Ebene nahmen die Territorien oder ergänzend die Reichskreise selbstständig wichtige Rechtsund Verwaltungsaufgaben wahr und bauten ihre administrativen Systeme aus. Zugleich wurde auf der übergreifenden Ebene die Vertretung der Gesamtbelange nach innen und außen durch Reichsoberhaupt, Reichstag, Reichsgerichtsbarkeit und durch die Reichskreise mit ihrer Scharnierund Exekutivfunktion nun voll institutionalisiert und durchorganisiert. Es besteht kein Anlass, wegen dieser Dualität der Verfassungsebenen an der Staatlichkeit des Reiches zu zweifeln. Nirgendwo steht geschrieben, dass sich das Gewaltmonopol des Staates auf eine Ebene konzentrieren, zentralstaatlich oder gar absolutistisch organisieren müsse. Wer in der Bundesrepublik Deutschland lebt, dem wird dieses politische System bei allen Gewichtsverschiebungen zwischen Bund und Ländern nicht ganz unbekannt vorkommen. Der Westfälische Friede kodifi zierte bis heute wirksame föderalistische Traditionen der deutschen Verfassungsgeschichte. Johannes Burkhardt, Das größte Friedenswerk der Neuzeit. Der Westfälische Friede in neuer Perspektive, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 10/1998, S. 592 612, hier S. 597 602 1. Erläutern Sie, wie Burkhardt die Verfassung des Reiches bewertet und was er hervorhebt. 2. Arbeiten Sie die Elemente der Reichsorganisation heraus. Erklären Sie die Funktionsweise der Verfassung. 3. Vergleichen Sie den Standpunkt Burkhardts mit dem von Stollberg-Rilinger in M1. Wodurch lassen sich die unterschiedlichen Bewertungen erklären? 4. Erörtern Sie, warum es unter Historikern zu unterschiedlichen Urteilen über denselben Sachverhalt kommen kann. 5. Erklären Sie Burkhardts Vergleich der Strukturen des Alten Reiches und der Bundesrepublik Deutschland. Ziehen Sie Ihre Ergebnisse aus M3 hinzu. 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 1 Reichsabschied: Schlussdokument eines Reichstages 2 Vgl. M2 auf S. 36. 37Wurzeln des modernen Föderalismus im Heiligen Römischen Reich Nu r z u Pr üf we ck en Ei ge nt um d es C .C .B uc hn er er la gs | |
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