Volltext anzeigen | |
M4 Was haben Arminius, Luther und die „Stunde Null“ gemein? Die Historikerin Heidi Hein-Kircher defi niert 2009 anlässlich des zweitausendjährigen Jubiläums der Varusschlacht in einem Aufsatz politische Mythen und ihre Funktion: Unter einem Mythos ist eine sinnstiftende Erzählung zu verstehen, die Unbekanntes oder schwer zu Erklärendes vereinfacht mit Bekanntem erklären will. Er entfl echtet schwer oder gar nicht erklärbare Vorgänge und stellt sie auf einfache Weise dar, wobei mythisches Denken auf einem Raster apriorischer Prämissen1 beruht. [...] Eine Gesellschaft besitzt daher zahlreiche, häufi g miteinander vernetzte und voneinander abhängige politische Mythen; zumeist bilden politische Mythen ein sich ergänzendes und aufeinander aufbauendes Mosaik, so ist der Arminiusmythos nicht ohne den im 19. Jahrhundert entstandenen Germanenmythos zu verstehen. [...] So gibt es Gründungsund Ursprungsmythen, Mythen der Katharsis2, der Beglaubigung und Verklärung, wobei aber der politische Gründungsmythos letztlich eine alle anderen umfassende Kategorie ist, da jeder Mythos in seinem Kern über den Sinn und das Entstehen einer Gemeinschaft berichtet. Er behandelt eben nicht irgendeine Person oder irgendein Ereignis, sondern die Person, die nach der Interpretation des Mythos einen grundlegenden Beitrag zur Entstehung der Gemeinschaft oder des Gemeinwesens geleistet hat, das Schlüsselereignis, das zu deren bzw. dessen Gründung führte, oder den Raum, der wesentlich für die Defi nition des eigenen Territoriums ist. So thematisiert der Varusschlachtmythos den „Wendepunkt der Geschichte Europas“ [...], sodass er heute als Ausgangspunkt für das Werden Europas gesehen wird, während er im 19. Jahrhundert für die Identitätsbildung der deutschen Nation von fundamentaler Bedeutung war. In einem engen Zusammenhang steht eine andere Perspektive, nämlich der Blick auf die „Botschaft“ politischer Mythen. Sie behandeln einen Erfolg, Niederlage/Verlust und/oder Opfer, wobei Letztere auch im Sinne der historischen „Leistungsschau“ interpretiert werden. So resultiert die „Stunde Null“ aus der vernichtenden Niederlage Nazi-Deutschlands im Zweiten Weltkrieg. [...] Politische Mythen behandeln nur das, was für die jeweilige Gesellschaft konstitutiv und von Bedeutung ist. Diese im Mythos erzählten Bilder repräsentieren die Werte, Ziele und Wünsche einer sozialen Gruppe. Sie beglaubigen ihre grundlegenden Werte, Ideen und Verhaltensweisen, weil sie die historischen Vorgänge aus ihrer Sicht und in ihrem Sinne interpretieren, sodass diese durch die Erzählung einer geschichtlich wirksamen Einheit zusammengebunden wird. Daher geben politische Mythen nationalen und nicht-nationalen (Massen-)Gesellschaften bzw. Gruppen Sinn, beispielsweise ist etwa der Mythos von „Luther auf der Wartburg“ prägend für protestantische Identität geworden. [...] Eine solche Identitätsbildung ist jedoch nur möglich, wenn zugleich eine Abgrenzung nach außen, zu anderen Gruppen hin, stattfi ndet. Auch dies wird durch Mythen geleistet, weil sie kennzeichnen, wer zur Gruppe gehört und wer nicht. Dies geschieht, indem Mythen immer den Gegensatz zwischen „gut“, also „eigen/selbst“, und „böse“, also „die anderen“ schaffen. [...] Insofern ist ein Mythos auch ein Mittel zur Selbstdarstellung nach innen und außen, etwa indem die Varusschlacht eindeutig auf die Stärke der „Germanen“ und damit der dem Mythos folgenden Gruppe, der deutschen Nation, hinweist. Mit dieser Funktion geht die integrative Rolle politischer Mythen einher. [...] Darüber hinaus können, wie es der Germanenmythos zeigt, politische Mythen zu Elementen von Ideologien werden und auch als deren Essenz3, Umschreibung oder Erklärung dienen. Auf diese Weise wird das gegenwärtige politische Handeln, werden territoriale Machtansprüche, Krieg und damit auch die herrschende Gruppe gerechtfertigt. Denn durch einen politischen Mythos werden diejenigen, die ihn „erfunden“ haben und ihn fördern, vom Glanz der im Mythos dargestellten Leistung bestrahlt. Heidi Hein-Kircher, Zur Defi nition, Vermittlung und Funktion von politischen Mythen, in: Landesverband Lippe (Hrsg.), 2000 Jahre Varusschlacht – Mythos, Stuttgart 2009, S. 149 154, hier S. 149, 151 154 1. Defi nieren Sie den Begriff „politischer Mythos“. Erläutern Sie dessen Funktion am Beispiel des Varusschlacht bzw. Arminiusmythos. 2. Begründen Sie am Text und auf der Grundlage ergänzender Recherchen, was Arminius, Luther und die „Stunde Null“ gemeinsam haben. Ziehen Sie die Abbildung auf Seite 61 hinzu. 1 apriorische Prämisse: vorherige Annahme 2 Katharsis: griech. „Reinigung“; nach Aristoteles’ Defi nition der Tragödie die Reinigung des Zuschauers nach dem Durchleben von Mitleid und Furcht; in der Psychologie Bezeichnung für das Sichbefreien 3 Essenz: konzentrierter Auszug; das Wesen, der Kern einer Sache 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 63Mythen der Nationen: Arminius – „Gründungsvater“ der Deutschen? Nu zu P üf zw ck en Ei g nt um e C .C .B uc hn er V rla gs | |
![]() « | ![]() » |
» Zur Flash-Version des Livebooks |