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bische Staat fi el nicht auf dem Amselfeld. Er war schon lange vorher in eine Vielzahl von Teilfürstentümer zerfallen. Legenden und Epen haben den Kosovo-Mythos in der Folgezeit über die Jahrhunderte ausgeschmückt und angereichert. Im 19. Jahrhundert entwickelte er sich zum „ideologischen Kitt“, mit dem man die Nation zu schaffen suchte. Ohne Einbeziehung des Kosovo war der Nationalstaat nun nicht mehr denkbar, und es störte nicht, dass das Kosovo durch serbische Abund albanische Zuwanderung längst von vielen Albanern besiedelt war. Der Entwurf eines serbischen Nationalprogramms, das der serbische Politiker Ilija Garasanin 1844 zur Maxime serbischer Politik machte, knüpfte am Kosovo-Mythos an und nutzte ihn für die Forderung nach einem Serbien, in dem sich „Gegenwart und Vergangenheit“ verbinden sollten. Insbesondere der Balkan-Krieg 1912 wurde ganz im Zeichen der „Rückeroberung“ des Kosovo geführt, und der Sieg über das Osmanische Reich als „Rache für Kosovo“ gefeiert. Der Kosovo-Mythos dient zuweilen auch dazu, einen vermeintlichen „Nationalcharakter“ der Serben zu konstruieren. Den Heldenmut auf dem Amselfeld stilisieren Nationalisten bis heute zu einem kollektiven Wesensmerkmal der Serben: die Bereitschaft zum Kampf, auch wenn man unterliegt. In dieser Fähigkeit erweise sich das „Vermächtnis der Schlacht auf dem Amselfeld“ als Lehre für die Gegenwart. [...] Unter Tito2 verblasste der Kosovo-Mythos. Dem jugoslawischen Staatschef war an partikularen Mythen einzelner Nationalitäten nicht gelegen. Titos Verfassung aus dem Jahre 1974 hatte dem Kosovo im Rahmen der serbischen Republik eine weitreichende Autonomie gewährt. [...] Erst Milos˘evic´3 machte die angebliche Unterdrückung der Serben zum Thema und setzte den Kosovo-Mythos neu in Szene. Was in der Legende zum Schicksalskampf zwischen „Türken“ und „Serben“ stilisiert worden war, wurde jetzt zum Symbol serbisch-albanischer Konfrontation. Milos˘evic´ prophezeite 1989: Wie das Kosovo 1389 für Serbien verloren ging und wie es den Serben durch Titos Verfassung erneut entrissen wurde, so werde man es jetzt und endgültig zurückgewinnen, sofern man einig sei und bereit, dafür zu kämpfen. Wie das geschah, ist bekannt: Es folgte die Herrschaft der Gewalt. Der KosovoMythos ist nie mehr gewesen als eine Legitimationsideologie der Nationsbildung, eine „invention of traditions“, wie sie der britische Historiker Eric Hobsbawm als typisch für den Nationalismus des 19. Jahrhunderts beschrieben hat. Das Fatale ist bloß, dass dieser Gebrauch der Geschichte in Serbien seine Wirkungsmacht sogar angesichts der Erfahrungen des Bosnien-Krieges nicht verloren zu haben scheint. Wolfgang Höpken, Die schaurige Sage vom Amselfeld. Wie Geschichte der nationalen Erweckung Serbiens dienstbar gemacht wird; in: DIE ZEIT, 12/1998; zitiert nach: www.zeit.de/1998/12/Die_schaurige_Sage_vom_ Amselfeld [04.04.2013] 1. Informieren Sie sich in Nachschlagewerken und dem Internet über die Schlacht auf dem Amselfeld 1389, den Kosovo-Krieg in den 1990er-Jahren sowie die Politik Titos und Slobodan Milos˘evic´s. Vgl. zum Kosovo-Krieg auch S. 217. 2. Erläutern Sie anhand des Textes die Entstehung und Entwicklung des Kosovo-Mythos. Inwiefern hat er die politische Entwicklung Serbiens und des Kosovo beeinfl usst? 3. Nehmen Sie Stellung zu dem von dem britischen Historiker Eric Hobsbawm geprägten Ausdruck „invention of traditions“. Warum bezeichnet Höpken diesen Gebrauch der Geschichte für Serbien als fatal? 4. Beurteilen Sie Höpkens Einschätzung historischer Ursprungsmythen. Vergleichen Sie mit M4. 2 Josip Broz (1892 1980), genannt Tito, war seit 1945 Ministerpräsident der Volksrepublik Jugoslawien, ab 1953 jugoslawischer Staatspräsident (seit 1963 auf Lebenszeit). 3 Slobodan Milos˘evic´ (1941 2006) war jugoslawisch-serbischer Politiker und Präsident Serbiens von 1989 bis 1997 sowie Präsident der Bundesrepublik Jugoslawien von 1997 bis Oktober 2000. 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 65Mythen der Nationen: Arminius – „Gründungsvater“ der Deutschen? N r z u P üf zw ec ke n Ei ge tu m d es C .C .B uc hn er Ve rla gs | |
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