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317Die deutsche Nachkriegsgeschichte im Spiegel der Geschichtskultur M1 Feste und Feiertage als Konstruktionen Der Philosoph Thomas Macho erläutert die symbolischen Dimensionen von Herrschaft: Neuere Theorien vom kulturellen Gedächtnis haben stets betont, dass sich Kulturen in ihren Festen und Feiertagen nicht nur manifestieren, sondern auch begründen und tradieren. Feste und Feiertage sind symbolische Konstruktionen. Sie bezeugen die politische Herrschaft über die Zeit, die der Herrschaft über ein Territorium entspricht. Während die Befehlsgewalt über Räume als geradezu selbstverständliche Konstitutionsleistung politischer Systeme verstanden werden kann, wird die Unterwerfung der Zeit häufi g unterschätzt oder vergessen. „Man könnte sagen, dass die Ordnung der Zeit das vornehmste Attribut aller Herrschaft sei“, behauptete Elias Canetti in Masse und Macht. Denn nach „Ordnungen der Zeit lassen sich Zivilisationen noch am ehesten umgrenzen. Ihre Bewährung besteht in der Dauer ihrer geregelten Überlieferung. Sie zerfallen, wenn niemand diese weiterführt. Ihre Zivilisation ist zu Ende, wenn es ihr mit ihrer Zeitrechnung nicht mehr ernst ist.“ Darum haben manche Herrscher versucht, sogar ihre Namen dem Kalender einzuprägen: Der Monat Juli sollte an Julius Caesar erinnern, der Monat August an Kaiser Augustus. […] Die Frage nach neuen Festen, die eine kollektive Identität stiften könnten, wurde in den Zeiten der Gründung europäischer Nationalstaaten häufi g aufgeworfen. Als Leitmodell fungierte der 14. Juli in Frankreich oder der amerikanische Independence Day am 4. Juli; doch nur wenige Nationalfeiertage erreichten die Bedeutung und das Alter des Bastilletags oder des Unabhängigkeitstags. Zu viele Revolutionen scheiterten oder wurden nachträglich ins Zwielicht gerückt, sodass sie keine Anlässe zu einem jährlich wiederkehrenden Festtag bilden konnten; obendrein ist das Spektrum der Möglichkeiten, einen Nationalfeiertag zu defi nieren, durchaus begrenzt. Infrage kommen Revolutionsund Unabhängigkeitstage, Gedenktage an eine aktive oder passive militärische Befreiung, Gründungstage, die einen staatskonstitutiven Akt – wie die Verabschiedung einer Verfassung oder die Ausrufung einer Republik – zum Ursprungsereignis erklären. [...] Nationale Feiertage sind häufi g junge Feste mit vergleichsweise geringer kultureller Stabilität. Sie wurden auch oft genug gewechselt. Manche Nationen, beispielsweise Deutschland oder Österreich, haben ihre gültigen Nationalfeiertage spät festgelegt, weshalb […] nach wie vor darüber diskutiert werden kann, diese Feiertage wieder aufzugeben oder auf einen anderen Termin zu verlegen. Thomas Macho, Die Feste der Berliner Republik, in: Merkur. Deutsche Zeit schrift für europäisches Denken 60 (2006) H. 9/10, S. 837 846, hier S. 837 f. 1. Stellen Sie dar, wie Macho die herrschaftsstützende Funktion von Staatsfeiertagen defi niert. 2. Erklären Sie die Aussage des Autors, nationale Feiertage seien häufi g „junge Feste mit vergleichsweise geringer kultureller Stabilität“ (Zeile 37 f.). 3. Erörtern Sie, welche Mittel Staaten und Herrscher noch zur Verfügung haben, um politische Herrschaft zu repräsentieren und zu stützen. M2 „Konterrevolutionäre Aktivitäten“ Wie in der DDR der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 gedeutet worden ist: Die „gefassten Beschlüsse für ein schnelleres Wachstumstempo der Volkswirtschaft“ brachten eine Verschlechterung der Lebenslage der Werktätigen mit sich und erwiesen sich als fehlerhaft. [...] Diese undurchdachten Maßnahmen [...] stießen bei zahlreichen Arbeitern und anderen Werktätigen auf Unverständnis und riefen Unzufriedenheit hervor. [...] Das erleichterte es dem Gegner, Ver wirrung zu stiften, die er für seine konterrevolutionären Aktivitäten ausnutzte. [...] Am 17. Juni 1953 kam es in Berlin und einigen anderen Städten der DDR zu Arbeitsnieder legungen und Demonstrationen. Die Feinde des Sozialismus im Inneren der DDR nutzten die Unzufriedenheit und Missstimmung von Werktätigen für ihren konterrevolutionären Putschversuch aus; sie erhielten operative Anleitung durch in West-Berlin und der BRD stationierten imperialistischen Geheimdienste und Agentenzentralen sowie Sender der USA. Von West-Berlin wurden Provokateure in die Hauptstadt und die Bezirke der DDR eingeschleust. Aber zu dem vom impe rialistischen Feind mit allen Mitteln angestrebten „Generalstreik“, der Ausgangspunkt weiterer konterrevolutionärer Aktivitäten sein sollte, kam es nicht. Viele der Streikenden und Demonstranten distanzierten sich von den konterrevolutionären Provokateuren, die wie die Faschisten hausten. Die Provokateure zerfetzten und verbrannten Fahnen und andere Symbole der Arbeiterbewegung, verwüsteten Einrichtungen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, staatliche Dienststellen und Büros demokratischer Organisationen, plünderten und brandschatzten Warenhäuser, Buchhandlungen und Kioske. Brutal misshandelten und ermordeten sie klassenbewusste Arbeiter und andere Werktätige, die ihnen mutig entgegentraten. Geschichte der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Abriss, von einem Autorenkollektiv u. d. Leitung von Ernst Diehl und Gerhard Roßmann, Berlin 1978, S. 292 294 5 10 15 20 25 30 35 40 5 10 15 20 25 30 ur zu P rü fzw ec ke n Ei g nt um s C .C .B uc hn er V er la gs | |
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