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246 Methoden-Baustein Beispiel und Analyse Marcus Sander: Hitlers willige Räuber? Götz Aly beleuchtet, wie die Nazis die Deutschen mit sozialen Wohltaten bei Laune hielten. [...] Am Anfang stehen zwei Fragen: „Wie konnte das geschehen? Wie konnten die Deutschen aus ihrer Mitte heraus beispiellose Massenverbrechen zulassen und begehen – insbesondere den Mord an den europäischen Juden?“ Der 1947 in Heidelberg geborene Historiker vertritt eine spannende, aber im Kern alte These: Der NS-Staat, den Aly als „Gefälligkeitsdiktatur“ begreift, habe sich mit Wohltaten die Loyalität gesichert. Die Nazis „erkauften sich den öffentlichen Zuspruch oder wenigstens die Gleichgültigkeit jeden Tag neu.“ Götz Aly veranlasst uns zu einem Perspektivwechsel, indem er den Blick auf das Spannungsverhältnis zwischen Volk und Führung lenkt und das „sozialistische“ Moment des Dritten Reiches beleuchtet. Leider verzichtet er darauf, den Begriff des „Sozialismus“, den er praktisch mit „Sozialpolitik“ gleichsetzt, nachvollziehbar einund abzugrenzen. Aly argumentiert wie folgt: Das NS-Regime war ein Räuberstaat, Hitler eine Art Räuberhäuptling, der sich auf Kosten Schwacher, insbesondere der europäischen Juden, fi nanzierte, bereicherte und der sein Volk an seiner Beute teilhaben ließ. Das Dritte Reich erscheint nicht als ein System des Terrors, sondern als Regime der sozialen Wärme, „als eine Art Wohlfühl-Diktatur“ […]. […] Während die bisherige Forschung NS-Vokabeln wie „Volksgemeinschaft“ und „Volkswohl“ zu wenig ernst genommen hat, klopft Aly sie auf ihren sozialpolitischen Kern ab. Dabei wertet er erstmals eine Fülle von fi nanzpolitischen Akten aus. Hitler, der „klassische Stimmungspolitiker“, führte das Kindergeld ein. Das Einkommensteuergesetz von 1934 entlastete Geringverdienende. Hitler betrieb laut Aly eine Politik der kleinen Leute, er forcierte sie mit Kriegsbeginn. […] Wer zahlte den Krieg? Alys Antwort ist eindeutig: die okkupierten Länder. Das Dritte Reich bürdete ihnen demnach horrende Besatzungskosten und Abgaben auf […]. Die Erlöse aus dem Hab und Gut der verjagten und ermordeten Juden fl ossen in die Kriegskasse. Doch willige Räuber gab es, so Aly, auch im Reichsinneren. In Hamburg waren es allein mindestens 100 000 Bürger, die Gegenstände aus jüdischem Besitz ersteigerten. Aly schärft den Blick für den „konsequentesten Massenraubmord der modernen Geschichte“. Seine These: „Wer von den Vorteilen für die Millionen einfacher Deutscher nicht reden will, der sollte vom Nationalsozialismus und vom Holocaust schweigen.“* Dennoch ist das Buch, gemessen an seinem Anspruch, eine Gesamtdeutung der Shoa zu geben, kein großer Wurf. Erstens hat der Wirtschaftshistoriker J. Adam Tooze in der „Tageszeitung“ dem Buch Rechenfehler vorgeworfen. […] Zweitens läuft Alys These auf eine plakative Neuaufl age der Kollektivschuldthese hinaus. Seine Behauptung, dass „95 Prozent“ der Deutschen von Hitlers „Wohltaten“ profi tiert hätten […], belegt er mitnichten. Vor allem mangelt es dem Buch an einer differenzierenden Analyse der Ursachen des Massenmords. Alys These, dass „die Sorge um das Volkswohl der Deutschen die entscheidende Triebkraft für die Politik des Terrorisierens, Versklavens und Ausrottens“ gewesen sei, ist so nicht haltbar. Im Grunde ist sein Buch ein materialistisch argumentierender Goldhagen: Wo der den mörderischen Antisemitismus witterte, wittert Aly allerorten einen Drang zum Rauben. Besonders enttäuschend ist, dass der Autor Gegenpositionen der Forschung, die stärker von einem „Primat der Ideologie“, also den ideologischen Antriebskräften für die Judenmorde, ansetzen, ausblendet. Stuttgarter Zeitung, 24. März 2005, S. 42 * Anspielung auf eine Feststellung des Philosophen Max Horkheimer von 1939: „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.“ Provokante Überschrift: Anspielung auf Daniel Jonah Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhn liche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996 Knappe Vorstellung des besprochenen Autors/Buches: Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt am Main 2005 Beurteilung: keine Einund Abgrenzung zentraler Begriffe Alys These: NS-Staat als „Wohlfühl-Diktatur“ Positive Bewertung von Alys Forschungsansatz Alys These/Beispiel: NS-Sozialpolitik Alys These/Beispiel: NSAußen und Judenpolitik Beurteilung: Aly schärft den Blick für den „konsequentesten Massenraubmord der modernen Geschichte“; aber gemessen an seinem Anspruch ist das Buch „kein großer Wurf“ Begründung I: Rechenfehler, Berufung auf J. Adam Tooze Begründung II: „plakative Neuaufl age der Kollektivschuldthese“ Begründung III: Massenmord wird zu einseitig gesehen; Vergleich mit Goldhagen Negatives Fazit: keine Auseinandersetzung mit kontroversen Positionen bzw. ideologischen Antriebskräften 5 10 15 20 25 30 35 40 4677_1_1_2015_218-275_Kap7.indd 246 17.07.15 12:07 Nu r z u Pr üf zw ec ke Ei ge nt um d es C .C .B uc hn r V er la gs | |
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