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Geschichte kontrovers Geschichte kontrovers 248 Nationalsozialismus: Staatsterror oder „Volksgemeinschaft“? Der Nationalsozialismus war unbestritten eine Diktatur. Kontrovers diskutiert die Geschichtswissenschaft aktuell ein Kennzeichen dieser Periode: Wie hat sich der Nationalsozialismus der deutschen Gesellschaft bemächtigt, d. h. wie erklärt sich das Ausmaß der Zustimmung zu bzw. der Beteiligung der deutschen Bevölkerung an dieser Diktatur? Während die eine Seite den staatlichen Terror von oben betont, hebt die andere die Zustimmung zu einer nicht nur gedachten, sondern zu einer wirklichen NSVolksgemeinschaft hervor und unterstreicht den inneren Konsens zahlreicher Deutscher mit vielen Maßnahmen der Nationalsozialisten. Zur Leitfrage „Staatsterror oder Volksgemeinschaft?“ äußern sich zwei international bekannte Historiker. M1 „Verführung und Gewalt“? Nach Hans-Ulrich Thamer, Professor für Geschichte an der Universität Münster, kennzeichnen vor allem zwei Maßnahmen das Regime des Nationalsozialismus: Worauf gründete sich diese Macht, die sich im Ornament der marschierenden Gefolgschaft und im Nimbus1 der strahlenden Führergestalt darstellte? Worauf beruhte die Stabilität des nationalsozialistischen Herrschaftssystems? War das Dritte Reich, wie es sich mit dem Anspruch auf Ewigkeit und Erlösung nannte, ein Führerstaat, in dem der Wille des „Führers“ alles bestimmte und der auf die blinde Gefolgschaft der breiten Massen rechnen konnte? […] Sicherlich waren es nicht allein Manipulation und Terror; die verschiedenen Formen von Zustimmung und Hinnahme hatten das während der Machtergreifungsphase gezeigt. Es war vielmehr die verwirrende Verbindung von Zustimmung und Gewalt, sie kennzeichnet die Wirkungsweise der nationalsozialistischen Herrschaft. Bezugspunkt des Konsenses wie der absoluten Macht war weiterhin der charismatische Führer Hitler, wie bereits in der „Kampfzeit“ und in der Machtergreifungsphase. Das Ansehen der nationalsozialistischen Partei schwand hingegen ebenso kontinuierlich wie die traditionelle Staatlichkeit. Das änderte freilich nichts an der Integrationsfähigkeit des Regimes, das bis zu seinem bitteren Ende ein hohes Maß an Stabilität und Loyalität vorfand und gleichzeitig eine ungeheure Vernichtungskraft entfaltete. […] Die Autorität des Diktators blieb in den Friedensjahren unbestritten und wuchs im Kriege immer weiter. Das lag an der Anpassungsbereitschaft der Bürokratie und an der blinden Gefolgschaft der Unterführer, aber ebenso an dem sich mit innenund außenpolitischen Erfolgen fast überschlagenden Führerkult. Die Bereitschaft der bürokratischen Eliten zur Mitarbeit im „nationalen Staat“ war einzig an die Person Hitlers gebunden. Sie war einmal in deren obrigkeitsstaatlichem Denken begründet, aber genauso in der Unterschätzung Hitlers, der sich erfolgreich als gemäßigter Staatsmann zu stilisieren und damit den Radikalismus seines politischen Denkens und Handelns zu verbergen verstand. Wann immer Zweifel und Kritik an Hitlers Politik aufkamen, sie wurden durch die suggestive Überredungsgabe Hitlers selbst wie durch die Wirkung des Hitler-Mythos aufgefangen. Die Fähigkeit Hitlers, auch erfahrene Politiker und selbstsichere Militärs umzustimmen und an sich zu binden, ist zu häufi g bezeugt, als dass sie als unglaubwürdige Schutzbehauptung abgetan werden könnte. Doch ohne schon vorhandene Anpassungsbereitschaft, Selbsttäuschung und den stabilisierenden Effekt des Hitler-Kultes wäre diese Ausstrahlungskraft nicht so wirkungsvoll gewesen. […] Es war die alte Verbindung von Verführung und Gewalt, die die Stabilität des Regimes bis in die Katastrophe hinein sicherte. Die Rücksichtnahme auf die materiellen und emotionalen Bedürfnisse der Menschen, verbunden mit Einschüchterung und Terror, die Atomisierung der Gesellschaft und der weitgehende Verzicht auf gesellschaftliche Verantwortung, eine sich verstärkende Realitätsfl ucht wie das Eingeständnis einer partiellen Komplizenschaft mit dem Regime, der sich nur langsam aufzehrende Führermythos wie patriotische Loyalitäten. Es war ein Bündel von Einstellungen, Motiven und Zwängen, die einen offenen Widerstand fast ganz ausschlossen, die auch jede Kraft schwächten, eine andere politische Wirklichkeit zu denken. Hans-Ulrich Thamer, Verführung und Gewalt. Deutschland 1933 1945, Berlin 1994, S. 338 f., 347 f. und 725 f. 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 1 Nimbus: hier: Ansehen, Glanz, der eine Person oder Sache umgibt 4677_1_1_2015_218-275_Kap7.indd 248 17.07.15 12:07 N r z u Pr üf z ec n Ei ge nt um d s C .C .B uc hn r V er la g | |
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