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M3 Der Imperialismus als politisches Prinzip Über den Imperialismus schreibt der englische Ökonom und Publizist John Atkinson Hobson im Jahr 1902: [In den] letzten 30 Jahre[n] [...] haben mehrere europäische Länder, allen voran Großbritannien, weite Teile Afrikas und Asiens sowie zahlreiche Inseln im Pazifi k und anderswo annektiert oder auf andere Weise unter ihre politische Gewalt gebracht. [...] Die Besetzung dieser neuen Territorien geht in Gegenwart einer kleinen Minderheit von Weißen, Beamten, Händlern und industriellen Organisatoren vor sich. Diese besitzen die politische und wirtschaftliche Macht über eine als inferior angesehene Bevölkerung, von der man annimmt, sie sei unfähig, in der Politik oder in der Wirtschaft irgendwelche ins Gewicht fallenden Selbstregierungsrechte zu übernehmen. Das gesamte Volumen unseres Exporthandels mit unseren neuen Protektoraten in Afrika, Asien und dem Pazifi k beläuft sich auf nicht mehr als etwas über 9 Millionen Pfund Sterling […]. Das Gesamtvolumen des Importhandels beträgt etwa 8 Millionen Pfund Sterling […]. Wie hoch wir immer die Gewinne in diesem Handel beziffern mögen, sie bilden einen gänzlich unbedeutenden Teil unseres Nationaleinkommens, während die direkt und indirekt mit der Erwerbung, Verwaltung und Verteidigung der Besitzungen verbundenen Ausgaben eine unendlich umfangreichere Summe verschlingen müssen. […] Aggressiver Imperialismus, der den Steuerzahler so teuer zu stehen kommt, der für den Händler von so geringem Wert ist, der den Staatsbürger einer so schweren, unberechenbaren Gefahr aussetzt, ist eine Quelle fetten Gewinns für den Investierenden, welcher daheim für seine Gelder die von ihm erstrebte profi table Verwendung nicht fi nden kann und darauf besteht, dass seine Regierung ihm zu einträglichen und gesicherten Kapitaleinlagen im Ausland verhelfe. Diese ökonomische Sachlage bildet die Hauptwurzel des Imperialismus. Doch wenn das konsumierende Publikum in unserem Land seinen Konsumstandard derartig steigern würde, dass er mit jeder Steigerung der Produktivkräfte Schritt hielte, dann könnte es gar keinen Überschuss an Waren, könnte es gar keinen Überschuss an Kapital geben, das laut nach dem Imperialismus ruft, damit er ihm Absatzgebiete verschaffe. […] Nicht der industrielle Fortschritt erfordert die Erschließung neuer Märkte und Investitionsgebiete, sondern die mangelnde Verteilung der Konsumkraft. [...] Der Imperialismus ist die Folge [...] [einer] verkehrten Wirtschaft. Sozialreform ist ihr Heilmittel. Der oberste Zweck der Sozialreform ist die Hebung des angemessenen privaten und öffentlichen Normalverbrauchs einer Nation, sodass diese in die Lage versetzt wird, ihrem höchsten Produktionsstande gemäß zu leben. [...] Die Gewerkschaftsbewegung und der Sozialismus sind demnach die natürlichen Feinde des Imperialismus, nehmen sie doch den imperialistischen Schichten die überschüssigen Einkommen fort, die den ökonomischen Antrieb des Imperialismus bilden. Bis hierher habe ich das Problem nur von seiner wirtschaftlichen Seite betrachtet. Weit wichtiger sind die politischen Folgen des Militarismus. Diese treffen geradezu die Wurzel der Freiheiten unseres Volkes und der einfachen Bürgertugenden. [...] Es gibt einen absoluten Gegensatz zwischen der Tätigkeit des guten Bürgers und der des Soldaten. Die Bestimmung eines Soldaten ist nicht, wie zumeist fälschlich gesagt wird, für sein Land zu sterben. Sie besteht darin, für sein Land zu töten. [...] [D]iese militante Gesinnung, die der Imperialismus zur Voraussetzung hat, wird dem ganzen Volk ständig und nachhaltig suggeriert. Der Gegensatz zur Demokratie führt uns zu den Wurzeln des Imperialismus als politisches Prinzip. [...] Wie ein großes heterogenes Gemisch „niederer Rassen“ von Beamten in einem Londoner Ministerium und seinen Emissären regiert wird, entzieht sich der Kenntnis und Kontrolle des Volkes. Die tatsächlichen und unausbleiblichen politischen Auswirkungen des neuen Imperialismus [...] mögen so zusammengefasst werden: Er ist eine konstante Bedrohung des Friedens, weil er uns dauernd in Versuchung führt, von niederen Rassen bevölkerte Länder anzugreifen, und weil er unsere Nation in Streitigkeiten mit anderen Nationen verwickelt, die rivalisierende imperialistische Ambitionen haben. Er zehrt in einem unbegrenzten und unübersehbaren Maß an den Mitteln des Landes, indem er sie für militärische Vorbereitungen aufbraucht, wodurch die Verwendung der laufenden Staatseinkünfte für produktive öffentliche Projekte unterbunden und die Nachwelt mit schweren Schulden belastet wird. Schließlich sind Geist, Politik und Methoden des Imperialismus den Institutionen der Selbstregierung des Volkes feindlich. Er begünstigt Formen der politischen Tyrannei und der gesellschaftlichen Autorität, die Todfeinde echter Freiheit und Gleichheit sind. John A. Hobson, Der Imperialismus. Deutsche Übersetzung von H. Hirsch, Köln 1968, S. 37 ff. 1. Erschließen Sie den Textinhalt mit der Interview Methode. Führen Sie ein fi ktives Interview mit Hobson, in dem dieser auf geeignete Fragen antwortet. 2. Überprüfen Sie Hobsons Thesen anhand Ihrer Kenntnisse. 3. Gestalten Sie eine Karikatur, die Hobsons Kritik veranschaulicht. 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 56 Vom Hochimperialismus zum ersten „modernen“ Krieg der Industriegesellschaft 4677_1_1_2015_048-089_Kap2.indd 56 17.07.15 11:58 Nu zu P rü fzw ck en Ei ge nt um d es C .C .B uc hn r V er la gs | |
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