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Geschichte kontrovers Geschichte kontrovers 68 Unterentwicklung – Folge imperialistischer Herrschaft oder selbstverschuldet? Imperialismus bedeutete nicht nur politische Herrschaft der sogenannten „Mutterländer“ über ihre Kolonien, sondern auch einen weitreichenden Einschnitt in die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Gesellschaften in Asien, Afrika und Lateinamerika. Vertreter der inzwischen unabhängigen Staaten führen die Unterentwicklung ihrer Länder häufi g auf die Strukturen der Kolonialherrschaft zurück, die die Basis für Abhängigkeiten vom Weltmarkt bis zu Hungerkrisen gelegt hätten. Andere Wissenschaftler, vorwiegend aus Europa und den USA, sehen solche Erklärungen kritisch: Sie machen auch innere Faktoren als Ursache für Armut und Unterentwicklung verantwortlich. Daher stellt sich die Frage: Ist die Unterentwicklung eine Folge imperialistischer Herrschaft oder ist sie auf die interne Schwäche ehemaliger Kolonialländer und heutiger unabhängiger Staaten zurückzuführen? M1 Auswirkungen des Kolonialismus? Der aus Guyana in Südamerika stammende Historiker Walter Rodney, dessen Vorfahren als Sklaven aus Afrika verschleppt worden sind, lehrt von 1968 bis 1974 an der Universität Dar Es Salaam in Tansania Geschichte. Sein 1972 veröffentlichtes Buch „How Europe Underdeveloped Africa“ ist immer wieder neu gedruckt worden, zuletzt 2012 in Senegal: Politisch gesehen waren die negativen Auswirkungen des Kolonialismus katastrophal. Mit einem Schlage verloren die afrikanischen politischen Staaten ihre Macht, Unabhängigkeit und Bedeutung – wobei es keinen Unterschied machte, ob sie große Weltreiche oder kleine politische Einheiten waren. […] Afrika wurde jede Möglichkeit verweigert, Wirtschaftsverbindungen mit anderen Teilen der Erde, außer mit Europa und Nord-Amerika, zu entwickeln. Über den Indischen Ozean hinweg wurde zwar weiterhin in geringem Ausmaß gehandelt, aber im Ganzen gesehen führten die afrikanischen Straßen zu den Seehäfen und die Seewege führten nach Westeuropa und Nordamerika. Diese Art Einseitigkeit ist noch heute ein Teil der Unterentwicklung und Abhängigkeit. Zu Beginn der Kolonialzeit besaßen die meisten afrikanischen Gewerbe trotz des Sklavenhandels und des Imports europäischer Waren noch eine gewisse Lebenskraft. […] Die Mengenproduktion der jüngsten kapitalistischen Zeit aber vernichtete die Tuchund Seifenherstellung, Salzgewinnung, Eisenverarbeitung und Töpferei. In Nordafrika hatte das Handwerk vor der Kolonialzeit die größten Fortschritte gemacht und umfasste Bereiche von der Messingverarbeitung bis zur Herstellung von Wollwaren. […] Aber der französische Kolonialismus zerstörte das Handwerk und brachte Tausende um ihre Arbeit. […] Die Nicht-Industrialisierung Afrikas wurde keineswegs dem Zufall überlassen. Sie wurde bewusst erzwungen: Afrika wurden eben genau die Maschinen und technischen Fertigkeiten vorenthalten, die in dieser Zeit eine Konkurrenz mit Europa ermöglicht hätten. […] Die Struktur des kolonialen bzw. des nach-kolonialen Afrika wird oft als „Wachstum ohne Entwicklung“ bezeichnet. Dies bedeutet, dass bestimmte Güter und Dienstleistungen in zunehmendem Maße angeboten werden. Vielleicht werden mehr Kautschuk und Kaffee exportiert und vom Erlös mehr Autos importiert, und vielleicht werden mehr Tankstellen für die Autos gebaut. Der Profi t aber fl ießt ins Ausland, und die einheimische Wirtschaft wird mehr und mehr zu einer Kolonie der Metropolen. In keiner afrikanischen Kolonie gab es eine wirtschaftliche Integration oder Maßnahmen für den Aufbau einer Selbstversorgungswirtschaft […]. Ein weiteres Beispiel für dieses Wachstum ohne Entwicklung während der Kolonialzeit war die überwiegende Abhängigkeit von einem oder zwei Exportgütern. Der Begriff der „Monokultur“ bezeichnet die kolonialen Wirtschaftsgebiete, die sich mit einem einzigen Erzeugnis befassten. […] Die Monokultur war ein Charakteristikum von Regionen, die unter imperialistische Herrschaft fi elen. […] Wenn dann die Ernte auch noch von Seuchen betroffen war, kam das einer Katastrophe gleich, wie 1940 im Fall der Goldküste, als die Sprösslinge der Kakaobäume eingingen. […] Darüber hinaus stand der afrikanische Produzent jederzeit den von außen gesteuerten Preisschwankungen und den Machenschaften der Kapitalisten völlig hilfl os gegenüber. […] Der Kolonialismus schuf Bedingungen, die nicht nur zu periodischen Hungersnöten führten, sondern auch zu chronischer Unterernährung, Fehlernährung und physischem Verfall der Afrikaner. […] 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 4677_1_1_2015_048-089_Kap2.indd 68 17.07.15 11:58 Nu r z u Pr üf z ec k n Ei ge nt um de s C .C .B uc h er V er la gs | |
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