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70 Vom Hochimperialismus zum ersten „modernen“ Krieg der Industriegesellschaft Vorgeschichte und Ausbruch des Ersten Weltkrieges Machtvakuum auf dem Balkan Drei Jahrhunderte hatte der Balkan unter osmanischer Herrschaft gestanden, nun waren dort selbstständige oder teilselbstständige Staaten entstanden. Das zerfallende Osmanische Reich wurde im 19. Jahrhundert von vielen Europäern als „Kranker Mann am Bosporus“ verspottet. Die europäischen Mächte hatten auf dem Balkan unterschiedliche Interessen: Russland wollte seinen Einfl uss in Europa stärken und den Bosporus und die Dardanellen (die Meerengen zwischen Mittelmeer und Schwarzem Meer) unter Kontrolle bekommen. Großbritannien und Frankreich sperrten sich gegen solche Expansionspläne. Sie wollten verhindern, dass eine so wichtige Seestraße in russische Hände fi el. Den Briten ging es außerdem darum, die Verbindungswege nach Indien zu kontrollieren und die Ausdehnung Russlands in Asien zu stoppen. Besonders in Serbien träumten viele von der Errichtung eines großen slawischen Einheitsstaates mit Zugang zur Adria. Russland, ebenfalls slawisch und orthodox, betrachtete sich als Schutzmacht der Völker auf dem Balkan. Dagegen mussten Österreich-Ungarn die na tionalen Unabhängigkeitsbewegungen beunruhigen, denn der Viel völkerstaat sah die Gefahr einer „Ansteckung“ seiner eigenen Minderheiten. Das Deutsche Reich schließlich pfl egte gute Beziehungen zum Osmanischen Reich, 1898 hatte sich Kaiser Wilhelm II. zum „Freund aller Muslime“ erklärt. Ab 1903 wurde mit deutscher Unterstützung die Bagdadbahn gebaut, die von der europäischen Türkei bis zum Persischen Golf führen sollte. Großbritannien, Frankreich und Russland beobachteten die Beziehungen zwischen dem Deutschen und dem Osmanischen Reich mit Misstrauen. Imperialistischer Vorstoß Österreich-Ungarns Solche gegensätzlichen Interessen machten den Balkan in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zu einem „Pulverfass“. Eine große Krise löste Österreich-Ungarn aus, als es 1908 die ehemals osmanischen Provinzen Bosnien und Herzegowina dem eigenen Staatsgebiet vollständig einverleibte. Mit dieser Aneignung verletzte Österreich-Ungarn vor allem die Interessen Serbiens, das sich selbst auf dem Gebiet der schwachen Türkei ausdehnen wollte. Zwei Balkan-Kriege 1912 nutzten Bulgarien, Serbien, Montenegro und Griechenland die Gunst der Stunde und eroberten in wenigen Wochen fast das gesamte von ihren slawischen Landsleuten besiedelte Gebiet. Die Türkei war fortan keine europäische Macht mehr. Der Krieg fl ammte 1913 noch einmal auf, denn Bulgarien konnte sich mit den übrigen Balkanstaaten nicht über die Verteilung des in Makedonien eroberten Gebietes einigen. In der Folge wurde es von seinen bisherigen Verbündeten sowie von Rumänien und der Türkei geschlagen. Es musste sich mit bescheideneren Gebietsgewinnen zufriedengeben. Die Kriegsereignisse 1912/13 stärkten die russische Position auf dem Balkan. Serbien konnte sein Staatsgebiet fast verdoppeln. Trotzdem fühlte es sich um den Sieg betrogen, weil es nicht den ersehnten Zugang zur Adria gewann. Denn um Serbiens künftige Machtstellung zu begrenzen, hatte Österreich-Ungarn die Bildung des selbstständigen Staates Albanien durchgesetzt. Russland unterstützte Serbien, um das weitere Vordringen Österreich-Ungarns aufzuhalten und seinen eigenen Einfl uss zu erweitern. i „Die Politik der Insektenstiche. Wenn es einen da unten am Balkan juckt, kratzt sich ganz Europa.“ Titelblatt der Zeitschrift „Simplicissimus“ vom 9. November 1908; die Zeichnung stammt von Thomas Theodor Heine. Internettipp: Für eine Einführung zu den Balkankriegen 1912/13 siehe Code 4677-02 4677_1_1_2015_048-089_Kap2.indd 70 17.07.15 11:58 Nu r z u Pr üf zw ec ke n Ei ge nt um d es C. C. Bu ch n r V er la gs | |
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