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97Christen, Juden und Muslime – Konfrontation, Koexistenz und Kooperation M3 Die Einnahme Jerusalems durch die Kreuzfahrer Wilhelm von Tyrus, um 1130 in Jerusalem als Kind von Einwanderern geboren, kehrt nach einem Studium der Theologie und Rechtswissenschaften in Europa nach Palästina zurück. Bevor er 1175 zum Bischof von Tyrus ernannt wird, tritt er 1167 in die Dienste von König Amalrich I. von Jerusalem, für den er die Geschichte der Kreuzfahrerstaaten („Geschichte der Taten jenseits des Meeres“) zu schreiben beginnt. Darin berichtet er über die Eroberung Jerusalems 1099: Es geschah sicherlich nach gerechtem Urteil Gottes, dass die, welche das Heiligtum des Herrn mit ihren abergläubischen Gebräuchen entweiht und dem gläubigen Volk entzogen hatten, es mit ihrem eigenen Blut reinigen und den Frevel mit ihrem Tode sühnen mussten. [...] Im Tempelbezirk sollen an die zehntausend Feinde umgekommen sein, wobei also die, welche da und dort in der Stadt niedergemacht wurden und deren Leichen in den Straßen und auf den Plätzen umher lagen, noch nicht gerechnet sind, denn ihre Zahl soll nicht geringer gewesen sein. Der übrige Teil des Heeres zerstreute sich in der Stadt, zog diejenigen, welche sich in engen und verborgenen Gassen versteckt hatten, um dem Tode zu entrinnen, wie das Vieh hervor und stieß sie nieder. Andere taten sich in Scharen zusammen und gingen in die Häuser, wo sie die Familienväter mit Frauen und Kindern und dem ganzen Gesinde herausrissen und entweder mit den Schwertern durchbohrten oder von den Dächern herabstürzten, dass sie den Hals brachen. [...] Als endlich auf diese Weise Ordnung in der Stadt hergestellt war, legten sie die Waffen nieder, wuschen sich die Hände, zogen reine Kleider an und gingen dann demütigen und zerknirschten Herzens, unter Seufzen und Weinen, mit bloßen Füßen, an den ehrwürdigen Orten umher, welche der Erlöser durch seine Gegenwart heiligen und verherrlichen mochte, und küssten sie in großer Andacht. Bei der Kirche zu den Leiden und der Auferstehung des Herrn kamen ihnen sodann das gläubige Volk der Stadt und der Klerus, welche beide seit so vielen Jahren ein unverschuldetes Joch getragen hatten, voll Dankes gegen ihren Erlöser, der ihnen wieder die Freiheit geschenkt, entgegen und geleiteten sie unter Lobliedern und geistlichen Gesängen nach der vorgenannten Kirche. Zitiert nach: Hagen Schulze und Ina Ulrike Paul (Hrsg.), Europäische Geschichte. Quellen und Materialien, München 1994, S. 982 f. 1. Arbeiten Sie Ziele und Mittel der Kreuzfahrer heraus. Berücksichtigen Sie dabei die Rechtfertigungen. 2. Verfassen Sie einen Tagebucheintrag der Eroberung Jerusalems aus muslimischer Perspektive. M4 Blutdurst, Beutegier und Frömmigkeit Der Londoner Kreuzzugshistoriker Thomas Asbridge beurteilt die Einnahme von Jerusalem so: Im 13. Jahrhundert schätzte der irakische Muslim Ibn al-Athir die Zahl der muslimischen Toten auf 70 000. Moderne Historiker hielten diese Zahl lange Zeit für eine Übertreibung, aber die lateinischen Schätzungen von mehr als 10 000 Toten nahmen sie als wahrscheinlich hin. Jüngste Forschungen förderten jedoch eine zeitgenössische hebräische Quelle zutage, die darauf hinweist, dass die Zahl der Opfer kaum über 3 000 ging und dass [...] sehr viele Gefangene gemacht wurden. Daraus kann man schließen, dass schon im Mittelalter die Vorstellung von der Brutalität der Kreuzfahrer im Jahr 1099 auf beiden Seiten des Konfl iktes ein Gegenstand von Übertreibung und Manipulation gewesen ist. [...] Gewiss, es wurden einige Einwohner Jerusalems verschont [...]. Doch war das fränkische Massaker nicht lediglich ein ungezähmter Ausbruch unterdrückter Wut, vielmehr handelte es sich um eine kaltblütig durchgeführte Mordaktion, die mindestens zwei Tage andauerte. [...] Die andere Wahrheit über die Eroberung Jerusalems, die nicht zu leugnen ist: Die Kreuzfahrer waren nicht einfach nur von Blutdurst oder Beutegier getrieben; es erfüllte sie auch tiefe Frömmigkeit und die echte Überzeugung, Gottes Werk auszuführen. Entsprechend ging der erste grauenhafte Tag des Plünderns und Abschlachtens mit einem Gottesdienst zu Ende. Als die Sonne am 15. Juli unterging, versammelten sich die Franken zu tränenreichem Dank an ihren Gott, ein Bild, das wie kaum ein zweites die uns paradox anmutende Vermischung von Gewalt und Glauben veranschaulicht. [...] Nach Jahren verzweifelter Leiden und Kämpfe war das schreckliche Werk der ersten Kreuzfahrer vollendet: Jerusalem befand sich in christlicher Hand. Thomas Asbridge, Die Kreuzzüge, Stuttgart 2010, S. 116 118 (übersetzt von Susanne Held) 1. Erklären Sie, warum es a) auf christlicher und b) auf muslimischer Seite zu einer Übertreibung der Opferzahlen kommen konnte. 2. Beurteilen Sie die „paradox anmutende Vermischung von Gewalt und Glauben“ (Z. 26 f.). 5 10 15 20 25 30 5 10 15 20 25 30Nu r z ur Pr üf zw ec ke n Ei ge nt um es C .C . B uc h er V er la gs | |
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