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M5 Mentalitätswandel Der Historiker Hartwig Brandt geht in einem Kapitel über „Die Revolution als Epochen wende“ auf Umbrüche in der Mentalität des deutschen Bürgertums ein: Die Revolution von 1848/49 war eine bürgerliche Revolution – bei allen Beimischungen und Sonder la gen, die es fraglos gab. Es war das Bildungsbür ger tum, welches in ihr dominierte, nicht nur im liberalen Lager, wo dies als plausibel erscheint, sondern auch bei Republikanern und Radikalen. Nur in Polen und Ungarn war es der Adel, welcher die Entwicklung vorantrieb. Das „Bürgerliche“ der Revolution trat in einer Men ta lität hervor, die vor allem durch den Liberalismus geprägt wurde. Eine Denkweise, die vorindustriell, aber fortschrittsgläubig-optimistisch zugleich war. Sie verwarf den Klassengedanken und propagierte die allgemeine Bürgergesellschaft – ohne Ansehen von so zialem Rang und wirtschaftlicher Potenz. Aber sie pfl egte das Eigentum […] als Sakrament ihrer Lehre, als Unterpfand aller bürgerlichen und politischen Rechte. Solche Vorstellungen, die aus dem Vormärz überkommen waren, zeigten sich auch in der Revolution noch weitverbreitet. Ja, sie erklären erst manche Eigenheiten ihrer Entwicklung. So lebte die Überzeu gung fort, dass allein schon der Gedanke die Politik zu bewegen vermöge. Eine Mitgift vergangener Jah re, die sich in den Anfängen des Umbruchs zu bestä tigen schien. Dass Staatsspitzen und Regierungen im Frühjahr 1848 die Macht ohne Widerstand preisga ben, dass diese, wie man sagte, gleichsam „auf der Straße lag“: dies erschien als eine Bestätigung dessen, was die Philosophie des Vormärz gelehrt hatte. So ver standen, war die Revolution, wie sie im Weiteren ih ren Verlauf nahm, ein fortgesetzter Prozess poli ti scher Ernüchterung. Aber auch darin schien sich die hochgestimmte Vorstellung von Politik zunächst zu bestätigen, dass auf die hermetischen Verhältnisse des Vormärz eine Zeit der öffentlichen Diskussionen, des politischen Bi wak[s]1 folgte, der Versammlungen, der Vereine, der Demonstrationen, der politischen Teilhabe bis in die Unterschichten hinab – wie übrigens auch der Frau en, die in der Revolution erstmals öffentlich-politisch hervortraten. „Wer sich des regen Treibens in den Jahren 1848 und 1849 erinnert, der könnte in der That der Meinung werden, er sei unter ein anderes Geschlecht versetzt, wenn er mit ansieht, wie lau und fl au es am Vorabend einer neuen Abgeordnetenwahl zugeht. Es sind die Straßenecken und Hausthüren sicher vor Plakaten, auf den öffentlichen Plätzen und in den Wirtschaftslokalen fi ndet man keine Volksredner mehr, und wenn der Gemeindenrath eine öffentliche Sitzung ankündigt, so kann man beinah darauf rechnen, dass außer den amtlich Vorgeru fe nen kein Mensch erscheint.“ So schrieb die „Schwä bische Chronik“ 1851. Erst aus der Rückschau wurde den Zeitgenossen das Drängende, das Fieberhafte, das Oszillierende der Revolutionszeitläufe bewusst. So begannen die fünfziger Jahre als ein Dezennium2 der politischen Illusionierung. Vielerorts kehrten vorrevolutionäre Gewohnheiten und Institutionen zurück. Aber die Mentalität war nicht mehr die des Vor märz. Es fehlte die Erwartungshaltung, es fehlte die Gewissheit von der Veränderungskraft des Ge dan kens. Vormärz und Revolution waren die letzten Ausläufer dessen, was die Aufklärung in die Welt gesetzt hatte. Die postrevolutionäre Mentalität war also eine an dere. Sie ließ sich von den Verhältnissen leiten, passte sich ihnen an. Sie wollte „realistisch“ sein, wie die neue Vokabel hieß. Politisch: Sie richtete ihren Blick auf die Macht – nicht nur die etablierte von Büro kra tie und Militär, sondern auch auf die virtuelle in der Gesellschaft. Rochaus Buchtitel von 1853 („Grundsätze der Realpolitik“)3 gab der Epoche das Stichwort. Der Wandel ging freilich darüber hinaus. Die Politik selbst hatte ihren Rang als Gegenstand des höchsten Interesses verloren. Der Bürger zog sich ins private Leben zurück, ein zweites Biedermeier kün digte sich an. Zum anderen galt die Aufmerksamkeit nun zuvorderst anderen Disziplinen und Dingen, jenen, welche mit „Realien“ zu schaffen hatten: Technik, Naturwissenschaften, Ökonomie. Die voranschreitende Industrialisierung, der wirtschaftliche „Take-Off“, in dem die materiellen Tendenzen zusammenschossen, beanspruchte das höchste Interesse. Die Industrie wiederum, die Liaison von Technik und Ökonomie, förderte das Prinzip des Massenhaf ten, auch dies eine Zeittendenz: Massenquartiere, Massen produktion, Massenkonsum. Auch die Poli tik erfuhr, durch die Ausweitung des Wahlrechts, ei nen Zug in diese Richtung. Der klassischen Politik, noch vom Individualitätsgedanken geprägt, war eine sol che Entwicklung fremd. 1848 hatte sie ihren letz ten historischen Auftritt. Hartwig Brandt, Europa 1815 1850. Reaktion – Konstitution – Revolution, Stuttgart 2002, S. 212 f. 1. Vor, während und nach der Revolution: Fassen Sie angesprochene Ähnlichkeiten und Unterschiede in den Denkund Verhaltensweisen des deutschen Bürgertums thesenartig zusammen. 2. Erläutern Sie, wo Ihnen in Ihrem persönlichen Um feld deutliche Mentalitätsunterschiede begegnen. 3. Begründen Sie, warum das Bürgertum im 19. Jahrhundert eine immer bedeutendere Rolle in der Gesellschaft spielt. 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 247Die Revolution von 1848/49 Nu r z u Pr üf zw ec ke n Ei g nt um de s C .C .B uc h r V rla gs | |
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