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255Politische Kultur im Kaiserreich Der Reichskanzler war meist zugleich Ministerpräsident in Preußen. Auch diese – verfassungsmäßig nicht fi xierte – Personalunion begünstigte das Bemühen, die Politik des Reiches und seines mächtigsten Bundesstaates miteinander in Einklang zu bringen. Im Einverständnis mit dem Kaiser bestimmte der Reichskanzler die Richtlinien der Politik. Als Vorsitzender des Bundesrates konnte er mit Zustimmung des Kaisers den Reichstag aufl ösen und besaß so ein Kampfi nstrument gegen Reichstagsmehrheiten, die ihn in wichtigen Anliegen nicht unterstützten. Der Reichstag als frei gewählte Volksvertretung bildete das demokratische Element in der Reichsver fassung. Im Vergleich zu den Verfassungen einzelner Länder war die Reichsverfassung fortschrittlich. Die einzelnen Abgeordneten wurden in allgemeiner, direkter, gleicher und geheimer Wahl nach dem Mehrheitswahlrecht gewählt. Wahlberechtigt waren alle männ lichen Deutschen über 25 Jahre. Durch Petitionen und parlamentarische Anfragen konnte der Reichstag Einfl uss auf die mächtige Exekutive nehmen. In Preußen hingegen bestand für die Zweite Kammer das Dreiklassenwahlrecht. Dort entschied die Höhe der aufgebrachten direkten Steuern über das Gewicht der Wählerstimmen. Die Stimmen der wenigen Reichen, die das erste Drittel des Steueraufkommens eines Wahlkreises leisteten, hatten als erste Klasse zusammen ebenso viel Gewicht wie die beiden übrigen Gruppen, die jeweils ein weiteres Drittel der direkten Steuern aufbrachten. Die Aufteilung der Gesetzgebungskompetenz auf Kaiser, Bundesrat und Reichstag machte das Aushandeln von Kompromissen notwendig. Ohne Zustimmung des Reichstages konnte kein Gesetz verabschiedet werden. Darüber hinaus musste das Parlament jährlich den Staatshaushalt genehmigen. Wesentliche Bereiche in der Militärgesetz gebung und der Außenpolitik waren ihm jedoch entzogen. Keine Mitsprache hatten Bundesrat und Reichstag bei Sondervereinbarungen zwischen Kaiser und Militärführung. Im Bereich von Verwaltung, Justiz und Wirtschaft nutzte das Parlament seine zentrale Stellung und gestaltete die Schaffung einer Reichsgesetzgebung (Bürgerliches Gesetzbuch 1900) und der Reichsinstitutionen mit. Parteien Im Kaiserreich bildete sich ein System von sechs Parteien bzw. politischen Richtungen heraus: Im Reichstag dominierte zunächst die Nationalliberale Partei, die sich zur nationalen Einigung bekannte. Sie war eine typische Honoratiorenpartei und repräsentierte das Besitzund Bildungsbürgertum. Nach der Reichsgründung half sie Bismarck, das Zusammenwachsen des jungen Nationalstaates voranzutreiben. Die Konservativen (Deutschkonservative, Freikonservative) waren monarchistisch ausgerichtet und vertraten die Interessen der Großagrarier sowie der Industriellen. Meist regierungskritisch waren die Linksliberalen, deren Wahlergebnisse allerdings vergleichsweise bescheiden blieben. Sie pochten auf eine Stärkung des Parlaments und lehnten im Gegensatz zu den Nationalliberalen eine Schutzzollpolitik ab. Die Deutsche Volkspartei, die nahezu vollständig auf Baden, Württemberg und Bayern beschränkt blieb, trat für die Rechte der Einzelstaaten ein und war ein entschiedener Gegner von Bismarcks Politik. Das Zentrum – so benannt nach den mittleren, zentralen Sitzplätzen seiner Abgeordneten im Parlament – war die Partei der überzeugt katholischen Wählerschaft. Diese reichte vom Adel bis zur Arbeiterschaft, sodass das Zentrum den Charakter einer katholischen Mi lieupartei ausbildete. Als Gegner der bestehenden Staatsund Gesellschaftsordnung war die Sozialdemokratie die Interessenvertretung der Arbeiterschaft. Bis zum Ersten Weltkrieg stieg sie zur stärksten Reichstagsfraktion auf. Honoratiorenparteien stützten sich auf lokale Wahlvereine, hatten aber keine straffe landesweite Organisation. i Die Erstausgabe des Bürgerlichen Gesetzbuches von 1896. Dieser erste Entwurf wurde 1899 ratifi ziert und trat am 1. Januar 1900 in Kraft. Nu r z u Pr üf zw ec ke n Ei ge nt um d s C .C .B uc hn er V er la gs | |
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